• Grosser Imageschaden für das EU-Parlament: Einer der grössten Korruptionsskandale in seiner Geschichte erschüttert die Institution.
  • Vizepräsidentin Eva Kaili soll Geld aus Katar kassiert haben, damit sie für den Golfstaat politische Entscheidungen beeinflusst.
  • Die Enthüllungen sorgen für Empörung und Kritik.

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Durch einen der grössten Korruptionsskandale in seiner Geschichte droht das Europaparlament schwer in Misskredit zu geraten. Vizepräsidentin Eva Kaili soll Geld aus dem Golfstaat Katar kassiert haben, damit sie für das WM-Gastgeberland Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt.

Die Sozialdemokratin aus Griechenland wurde zusammen mit fünf anderen Verdächtigen festgenommen. Vier davon kamen am Sonntag per Haftbefehl in Untersuchungshaft – darunter laut Medien auch Kaili.

Im Raum steht neben Vorwürfen der Bestechung und Bestechlichkeit auch der Verdacht der Geldwäsche. Kaili wurde von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Wochenende von all ihren Aufgaben entbunden. Bislang war sie eine von insgesamt 14 Stellvertretern. Formell muss die Entscheidung vom Parlament noch bestätigt werden. Die sozialdemokratische Fraktion suspendierte bereits ihre Mitgliedschaft. Ihre Partei schloss sie aus.

Griechische Behörden frieren Kailis Konten ein - noch weitere Verdächtige festgenommen

Mittlerweile haben die griechischen Behörden zudem ihre sämtlichen Vermögenswerte eingefroren. Betroffen seien "Bankkonten, Schliessfächer, Firmen und alle anderen Vermögenswerte", teilte der Leiter der griechischen Anti-Geldwäsche-Behörde, Haralambos Vourliotis, am Montag mit. Die Massnahme gelte auch für Kailis Angehörige.

Festgenommen wurden auch ein ehemaliger sozialdemokratischer Europa-Abgeordneter aus Italien, Antonio Panzeri, sowie Kailis italienischer Lebensgefährte. Wie die Zeitung "Le Soir" und das Magazin "Knack" am Sonntag berichteten, kamen beide ebenfalls in Untersuchungshaft. "Sie werden der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, der Geldwäsche und der Korruption beschuldigt", teilte die Staatsanwaltschaft mit.

Zwei weitere Festgenommene liess der Untersuchungsrichter frei. Am Samstagabend wurde das Haus eines weiteren Europa-Abgeordneten durchsucht. Medienberichten zufolge handelt es sich um den belgischen Sozialdemokraten Marc Tarabella. Seine Partei teilte am Sonntagabend mit, Tarabella vor ein parteiinternes Gremium zitiert zu haben.

Die Vorwürfe setzten den politischen Betrieb in Brüssel unter Schock. In der EU-Hauptstadt, wo Gesetze für rund 450 Millionen Europäer gemacht werden, gehört Lobbyarbeit selbstverständlich dazu. Nach Angaben des Vereins Lobbycontrol tummeln sich etwa 25.000 Lobbyisten in der Stadt. Sie alle versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Doch dieser Fall ist anders, brisanter – und lässt hohe kriminelle Energie vermuten.

Seit mehreren Monaten verdächtigen belgische Ermittler nach Angaben der Staatsanwaltschaft einen Golfstaat, "die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen des Europäischen Parlaments zu beeinflussen". Dazu sollen hohe Geldsummen gezahlt oder teure Geschenke an Entscheidungsträger im Parlament gemacht worden sein. Aus Ermittlerkreisen wurde der Deutschen Presse-Agentur (dpa) bestätigt, dass es sich bei dem Golfstaat um Katar handelt.

Taschen voller Bargeld in Kailis Wohnung

Kaili sitzt seit 2014 im EU-Parlament, wo sie inzwischen fast bis an die Spitze Karriere gemacht hatte. Der Sozialdemokrat Panzeri hatte nach seinem Abschied aus dem Parlament in Brüssel die Nichtregierungsorganisation Fight Impunity gegründet, die eigenen Angaben zufolge weltweit für Menschenrechte kämpft. Die Organisation schreibt sich auch den Kampf gegen Korruption auf die Fahne. In Italien kamen Panzeris Ehefrau und dessen Tochter in Hausarrest.

Bei den Durchsuchungen in Brüssel wurden am Freitag insgesamt 600.000 Euro Bargeld und Handys beschlagnahmt. Später fanden Ermittler in Kailis Wohnung Medienberichten zufolge Taschen voller Bargeld.

Angesichts des Korruptionsskandals fordern Politiker einschneidende Konsequenzen – und befürchten weitere Enthüllungen zu möglichen Schmiergeldzahlungen des reichen Golfemirats Katar. Zur spektakulären Festnahme Kailis sagte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff der "Bild" (Montag), die Vorgänge seien traurig, unglaublich und auch Grund genug für die 44-Jährige, "ihren Posten sofort zu räumen". Bisher ist Kaili von ihren Aufgaben nur freigestellt.

Der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer sagte: "Korrupte Personen haben als Mitglieder oder Mitarbeiter im Europäischen Parlament keinen Platz." Er empfinde Zorn und Bitterkeit, "weil schamloses Handeln Einzelner die ganze Institution zu beschädigen droht".

Der EU-Parlamentarier Dennis Radtke (CDU) sagte der "Bild": "Die Scheichs aus Katar kaufen nicht nur für 200 Milliarden Dollar eine Fussball-WM und deren geldgierige Funktionäre und Protagonisten, jetzt machen sie auch vor Politikern nicht Halt. Wer so vorgeht, will sich die Welt kaufen. Und leider ist das jetzt in Europa gelungen, im Europäischen Parlament, in dem die gewählten Vertreter von 27 Nationen sitzen."

Radtke betonte, er befürchte "den grössten Korruptionsskandal der europäischen Politik, wenn bei den Festgenommenen zu Hause schon Tüten mit Geldscheinen von mehreren 100.000 Euro gefunden wurden". Man müsse davon ausgehen, "dass noch viel mehr aufgedeckt wird".

Er forderte die EU-weite Überprüfung und Erweiterung der Transparenz- und Lobbyregeln für Drittstaaten und von ihnen gegründeten Lobbyfirmen sowie einen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Vorwürfe gegen Kaili.

Bundeskanzler Scholz entsetzt über mögliche Korruption

Aussenministerin Annalena Baerbock sprach am Montag in Brüssel von einem "unglaublichen Vorfall". "Der muss jetzt ohne Wenn und Aber aufgeklärt werden mit der vollen Härte des Gesetzes."

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich bestürzt: "Die Vorwürfe gegen die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments sind sehr schwerwiegend", sagte die Deutsche am Montag in Brüssel. Aufseiten der Kommission würde zudem nun auch das Transparenzregister genau geprüft. Darin seien alle Treffen von EU-Kommissarinnen und EU-Kommissaren mit Interessensvertretern festgehalten.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte schockiert auf die Ermittlungen zu Korruption im EU-Parlament. Scholz habe die Berichte darüber "mit dem erwartbaren Entsetzen" zur Kenntnis genommen, "dass so etwas offenbar möglich ist", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Es dürfe "keine Vorverurteilungen geben". Sollten sich die Berichte allerdings bestätigen, wäre dies "ein sehr ernster Vorgang". Dieser müsse dann auf Ebene des EU-Parlaments und "nicht von einzelnen Nationalstaaten" diskutiert werden.

Hebestreit reagierte zurückhaltend auf eine Frage, die auf die Möglichkeit ähnlicher Fälle in deutschen Parlamenten abhob. "Nein, das würde mich doch sehr überraschen und wundern", sagte er. Eine eigene Initiative der Bundesregierung, dies zu prüfen, sei jedenfalls nicht nötig. Dies sei Aufgabe der Parlamente und der Staatsanwaltschaften.

Kaili fiel zuletzt mit ungewöhnlicher Haltung auf

Aber haben Kaili und die anderen Verdächtigen tatsächlich auf illegale Weise die Interessen Katars vertreten? Kaili zumindest fiel zuletzt mit einer eher ungewöhnlichen Haltung auf. Als das Parlament im November über eine Resolution diskutierte, die die WM in Katar kritisieren sollte, attestierte die Ex-Journalistin dem Land, Vorreiter in Sachen Arbeitsrechten zu sein.

Die WM sei Beweis dafür, "dass Sportdiplomatie einen historischen Wandel in einem Land bewirken kann, dessen Reformen die arabische Welt inspiriert haben". Zudem beklagte sie, dass jeder, der mit Katarern spreche, der Korruption verdächtigt werde.

Der WM-Gastgeber steht seit Jahren wegen der Menschenrechtslage und der Bedingungen für ausländische Arbeiter in der Kritik. Zahlreiche Mitglieder des damaligen Fifa-Exekutivkomitees, das 2010 die WM nach Katar vergeben hatte, sind inzwischen der Korruption überführt. Katar selbst hat den Vorwurf der Bestechung jedoch stets bestritten.

Der Innenausschuss des EU-Parlaments wiederum stimmte Anfang Dezember dafür, die Visa-Regeln für Katar und andere Länder zu erleichtern. Obwohl Kaili selbst kein Mitglied im Ausschuss ist, stimmte auch sie ab – zur Überraschung der eigenen Fraktion.

Nach Parlamentsregeln ist es zwar möglich, dass Abgeordnete bei Abstimmungen auch durch Nicht-Mitglieder ersetzt werden. SPD-Parlamentsvize Katarina Barley sagte "ZDF heute" jedoch: "Sie [Kaili] hat sich ganz nach hinten gesetzt, wo normalerweise nur Mitarbeitende sitzen – weit weg von unserer Fraktion. Man könnte auch sagen: Sie hat sich versteckt."

Das letzte Wort bei der Visa-Liberalisierung ist allerdings noch nicht gesprochen. Das Parlament muss darüber noch mit den EU-Staaten verhandeln. Der Grünen-Abgeordnete Erik Marquardt, der für das Thema im Parlament zuständig ist, stellte bereits klar, in der aktuellen Situation könne es keine Visa-Liberalisierung geben. (AFP/dpa/tas)

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