Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: der Spagat zwischen Wirtschaftskollaps und Infektionsgeschehen, gesundheitliche Kollateralschäden in der Coronakrise und die Lage bei der FPD.

Guten Morgen, liebe Leser,
wir erleben das Verschwinden der Harmlosigkeit. Es gibt keine unschuldigen Entscheidungen mehr.
Der perfekte Wirtschaftspolitiker ist auf einmal für die Gesellschaft gefährlich, weil seine Kennziffern – Umsatz, Gewinn, Volksvermögen – und seine Sehnsüchte – weniger Steuern, schlanker Staat, Freiheit! – nicht so recht zum autoritären Imperativ der Virusbekämpfung passen wollen. Der Pandemie-Bekämpfer in seiner Absolutheit wiederum stellt eine Gefahr für den Wohlstand dar und bedroht mit seinem vorsätzlichen Angriff auf die Bürgerrechte die Zivilisiertheit der Zivilisation. Der Mensch könnte am Ende gesund und nackt dastehen, so wie im anderen Fall vermögend und tot.
Man dürfe nicht die Gesundheit gegen die Wirtschaft ausspielen, heisst es immer wieder. Doch die Wirklichkeit hält sich nicht an derartige Belehrungen. Sie zwingt genau zu dieser Ausspielung, die wir im politischen Alltag eine Interessenabwägung nennen. Der Gegenspieler wohnt diesmal nicht links und nicht rechts, sondern in uns selbst. Wir verfolgen zwei Ziele, die im Moment nicht auf einem Weg zu erreichen sind. Überall Sackgassen, Schlaglöcher, Abbruchkanten. Auch die Kanzlerin tappt im Dunkeln: Sie sei kein "Zukunfts-Vorherseher", sagte Merkel gestern im Bundestag.
Die obersten Autoritäten des Staates strahlen in diesen Tagen ebenfalls eine würdevolle Verwirrtheit aus. Wer den Satz des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Vosskuhle aus der heutigen "Zeit" zweimal liest, der spürt, wie die Ambivalenz selbst diesen klugen Mann in Beugehaft genommen hat:
Wie bitte? Als gäbe es eine Menschenwürde ohne Menschenleben. Oder anders gesagt: Wer das Leben des Nächsten antastet, der berührt unweigerlich auch dessen Würde. Hier sind sich erkennbar zwei Gedanken in die Quere gekommen: Willkommen im Zeitalter der Überforderung.
Wer den Auftritt der Bundeskanzlerin vor den Parlamentariern verfolgte, konnte das Wechselspiel von Macht und Ohnmacht beobachten. Sie würde gern schneller öffnen. Aber sie darf nicht. Sie würde gern konsequenter das Virus bekämpfen. Aber auch das ist ihr versagt.
Die Reichweite ihrer Politik wird durch den Wirtschaftskollaps einerseits und das Infektionsgeschehen andererseits limitiert, auch wenn sie anfangs gehofft hatte, es wäre umgekehrt. "Was kann als Kompass dienen?", fragte Hans Jonas in seinem "Prinzip Verantwortung" und gab uns folgende Antwort:
Damit ist in unserem Fall beides gemeint. Es steht die Gesundheit der Gesellschaft auf dem Spiel sowie unser wirtschaftliches Wohlergehen. So gesehen ist der Politikertypus einer Angela Merkel, der nichts riskiert, also auch nicht unser Leben, der kein anderes Ideal verfolgt als das, dem Irrlicht auszuweichen, für diese historische Situation wie geschaffen. Ihre Verteidigung der Normalität gegen die Zumutung einer Zukunft, die plötzlich nach Krankenhaus und Krematorium riecht, erscheint im trüben Licht dieser Tage schon als kühne Vision.
Der politische Populismus aber, dessen wichtigste Fingerfertigkeit in der Zuspitzung besteht, kann der Gesellschaft in dieser Situation keinen Dienst erweisen. Das Instrument des Augenblicks ist nicht die Fackel oder das Megafon, sondern die Waage. Merkel hält sie fest in der Hand.
Über den komplizierten Charakter dieser Abwägungsarbeit – hier die Gesundheit und dort das wirtschaftliche Wohlergehen – macht sie sich und uns keine Illusionen. "Wir haben die Chance, es gut zu bewältigen", sagte Merkel gestern. "Aber", fügte sie sogleich relativierend hinzu, "ich sage nicht, dass niemand etwas merken wird." Nein, sie plane keine Steuererhöhung "zum jetzigen Zeitpunkt". Aber für die Zukunft könne sie nichts ausschliessen.
Man kann dieser Kanzlerin beim Austarieren regelrecht zuschauen. Ihre Corona-Politik ist tastend, und dadurch durchschaubar und lauter. Die Grabinschrift der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann charakterisiert auch die Spätphase dieser Kanzlerin: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar."
Gesundheitliche Kollateralschäden durch Coronakrise
Ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums hat vor einigen Tagen ein 80-seitiges Papier zu den Folgen der Coronakrise veröffentlicht. Stephan Kohn heisst der Mann, er bekleidete das Amt eines Oberregierungsrats, zuständig für "kritische Infrastrukturen", also auch den medizinischen Komplex in Deutschland. In seinem Papier heisst es:
Bei 3,5 Mio. Pflegebedürftigen würde eine zusätzliche Todesrate von einem zehntel Prozent zusätzliche 3.500 Tote ausmachen. Ob es mehr oder weniger seien, könne mangels genauerer Schätzungen nicht gesagt werden.
Explizit wird vor den gesundheitlichen Kollateralschäden der Pandemie-Bekämpfung gewarnt. Dort heisst es, dass bis zu 125.000 Patienten aufgrund von verschobenen Operationen in diesem Jahr sterben könnten. Die Intensivstationen und Operationssäle würden für den befürchteten Corona-Ansturm freigehalten, der bisher nicht erfolgte.
Der Autor des Papiers wurde unverzüglich vom Dienst suspendiert. Als Kronzeugen benennt er den Pathologen Prof. Peter Schirmacher, Mitglied der Leopoldina-Akademie. Was also ist dran an diesen Zahlen und Zuständen, die der Beamte beschrieb oder auch nur vermutete? Das wollte ich vom Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt wissen. Seine Antwort:
Über die Situationen in den Kliniken und die Auslastung sagt er:
Er regt eine wissenschaftlich fundierte Erhebung zu diesem Sachverhalt an:
Fazit: Der Mann aus dem Innenministerium hat ohne echte Belege Ängste verbreitet. Doch die Fragen, die er aufwirft, sind dennoch relevant. Den Mann kann man suspendieren, die Fragezeichen nicht.
Im Gespräch mit Dr. Simone Bagel-Trah
Der Podcast-Zyklus "Der achte Tag" will Orientierung bieten und Sinn stiften. Menschen mit verschiedensten Lebenserfahrungen und Zukunftsvisionen kommen zu Wort. In der neuen Folge spricht Dr. Simone Bagel-Trah zu uns. Sie ist gelernte Biologin, Aufsichtsratsvorsitzende des Henkel-Konzerns und die Ur-Ur-Enkelin des Firmengründers.
Am Rheinufer in Düsseldorf hat uns Simone Bagel-Trah auf dem Redaktionsschiff Pioneer One besucht. Wir haben – anhand von drei Sachbüchern – darüber gesprochen, wie sich die Herausforderungen unserer Zeit, als da wären Klimakrise, Digitalisierung und Pandemie-Bekämpfung, mit Zuversicht und dem Mut zu neuem Denken bewerkstelligen lassen:
Für Sie bietet die derzeitige Krise viele Chancen zu einem neuen globalen Miteinander:
Michael Theurer zur Lage bei der FDP
Die Liberalen sind verzweifelt und suchen etwas ganz Essenzielles, nämlich sich selbst. Als Oppositionspartei ist die FDP in der Defensive: Schlechte Umfragewerte um die fünf Prozent, ein dünnhäutiger Parteichef, gestern gab es ausserdem noch eine ausserordentliche Vorstandssitzung zum Thema Thomas Kemmerich. Der Fraktionschef in Thüringen hat seiner Partei als von der AfD mitgewählter Kurzzeit-Ministerpräsident viel Ärger gemacht. Gestern wurde er auf stumm gestellt.
Mein Kollege Michael Bröcker hat im Anschluss an die Sitzung Michael Theurer angerufen. Dieser ist nicht nur FDP-Chef in Baden-Württemberg, sondern auch Vize-Vorsitzender seiner Fraktion im Deutschen Bundestag – und damit Stellvertreter von Christian Lindner. Über die Sondersitzung der Parteispitze sagt er:
Dass Kemmerich erneut Auslöser eine Krisensitzung war, steht auch Parteichef Christian Lindner nicht gut zu Gesicht. Stichwort Durchsetzungskraft. Theurer sagt:
Darüber, dass die Liberalen aus den Zeiten eingeschränkter Grundrechte bislang keinen politischen Profit schlagen, sagt er:
Hauptstadt Briefing
Lesen Sie heute – gratis für Pioneers – im Hauptstadt Briefing:
► Der Fachkräftemangel in den Kitas ist seit Jahren ein Problem. Die NRW-Landesregierung will nun junge Leute vom Bundesfreiwilligendienst und aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr als Hilfs-Erzieher rekrutieren.
► Nirgendwo lassen sich Abstandsregeln schlechter durchsetzen als in einem Flugzeug. Die Politik ringt mit den Vorgaben für Airlines und zeigt sich überraschend nachgiebig.
Sommerpause für ARD-Talkshows
Lockdown für die Schausteller des politischen Gewerbes: Der Beschluss der ARD-Verantwortlichen, Sandra Maischberger, Anne Will und Frank Plasberg in eine zweimonatige Sommerpause zu schicken, macht viele Politiker heimatlos.
So wie andere Menschen in den Ferienwochen ihren Stammplatz am Swimmingpool einnehmen, liegen die Handtücher von Peter Altmaier, Olaf Scholz, Karl Lauterbach, und Franziska Giffey ganzjährig in den TV-Studios. Plötzlich herrscht Badeverbot.
Fünf Dinge, die heute wichtig sind
Erstens. Der Bundestag will ab 9 Uhr weitere Hilfsmassnahmen beschliessen. Ein Paket von Gesundheitsminister Jens Spahn sieht eine erneute Ausweitung von Corona-Tests vor, um vor allem Pflegekräfte und Pflegebedürftige besser zu schützen. Ein Paket von Arbeitsminister Hubertus Heil will eine befristete Erhöhung des Kurzarbeitergelds plus längere Bezugsdauer durchsetzen.
Zweitens. Bund, Länder und Kommunen müssen wegen der Corona-Pandemie mit deutlich weniger Steuergeld auskommen. Wie heftig es wird, sagen um 15 Uhr die Steuerschätzer voraus.
Drittens. Der Europäische Gerichtshof urteilt ab 9.30 Uhr darüber, ob die dauerhafte Unterbringung von Asylbewerbern in dem ungarischen Container-Lager Röszke gegen EU-Recht verstösst.
Viertens. Der Energiekonzern RWE legt Geschäftszahlen für das erste Quartal vor. Die deutschen Versorger sind trotz des zurückgegangenen Stromverbrauchs bislang weitgehend unbeschadet durch die Corona-Krise gekommen.
Fünftens. Bei einer Videoschalte wollen die Vertreter der 36 Profivereine heute auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Fussball Liga die letzten Details für die Saison-Fortsetzung in der 1. und 2. Bundesliga klären. Dabei wird es auch um Szenarien im Falle eines möglichen Saisonabbruchs gehen. Die gute Nachricht: Der Ball rollt. Die schlechte: Niemand weiss wie lange.
Einladung zum Livestream
Ich möchte Sie zum Dialog mit dem Team der Pioneer One einladen – und zwar per Livestream auf unserer Facebook-Seite. Um 10 Uhr werde ich mit meiner Kollegin Alev Doğan Ihre Fragen zu unserem ThePioneer-Projekt beantworten. Schauen Sie auf der Facebook-Seite vorbei: Wir freuen uns auf Sie.
Tag vier auf Pioneer One
Der heutige Donnerstag ist Tag vier auf der Pioneer One. Mit 213 Kilometern haben wir gestern die längste Etappe unserer Überfahrt Richtung Berlin absolviert – Zeit für Interviews und stille Recherche.
Aktuell liegen wir in Hannover im Nordhafen – in freudiger Erwartung der niedersächsischen Prominenz. Wir erwarten Sigmar Gabriel, den Hannoveraner Oberbürgermeister, den Wirtschaftsminister und den Sänger der Scorpions. Mehr darüber im morgigen Morning Briefing und vorher schon auf ThePioneer.de.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den neuen Tag. Es grüsst Sie auf das Herzlichste Ihr
Gabor Steingart