Besucherinnen und Besucher von Bundesligaspielen müssen sich nicht mehr nur vor brennenden Fackeln, vollen Bierbechern oder menschlichen Fäusten in Acht nehmen. Die neue Gefahr ist unsichtbar und wird vor allem gezielt eingesetzt. Die Vereine warnen davor und nennen erste Verdachtsfälle.
Die jüngsten Warnungen vor K.-o.-Tropfen haben auch Fan-Experten überrascht. "Es mag zunächst verunsichern, wenn bei Fussballspielen davor gewarnt wird, andererseits ist es sehr gut, darauf aufmerksam zu machen, dass diese Gefahr besteht", sagte der Berliner Politikwissenschaftler und Fan-Forscher Jonas Gabler in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. "Wir kennen K.-o.-Tropfen ja aus anderen Kontexten wie Clubs und Bars."
"Durch Awareness soll ein Weg gefunden werden, um Diskriminierungen und grenzüberschreitendes Verhalten zu benennen und diesem Verhalten aktiv entgegenzutreten", erklärte Antje Hagel vom "Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt" beim Fachtag "Antidiskriminierung und Vielfalt" des Deutschen Fussball-Bundes und der Deutschen Fussball Liga im Oktober vergangenen Jahres. Beispiele für solche Konzepte sind "Das Dächle" beim VfB Stuttgart, "Luisa ist hier" bei Bayer 04 Leverkusen oder "Wo ist Lotte?" in der Hauptstadt bei Hertha BSC.
Die Polizei ermittelt wegen Verdachtsfällen während Freiburg-Spiels
Der SC Freiburg hatte vor der Länderspielpause gewarnt: "In der Bundesliga gab es zuletzt vermehrt auftretende Verdachtsfälle von K.-o.-Mitteln in Stadien. So auch in Freiburg." Weiter hiess es, dass es in der Partie gegen die TSG 1899 Hoffenheim bei mehreren Stadionbesuchern zu Symptomen gekommen sein soll, bei denen der Verdacht auf die Verabreichung von sogenannten K.-o.-Tropfen bestehe. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Der SC Freiburg registrierte nach eigenen Angaben zwei bis drei Fälle von Belästigung im vergangenen Jahr.
Eine Warnung hatte auch der SV Werder Bremen vor dem Spiel gegen Bayer 04 Leverkusen veröffentlicht. Bisher bestätigte sich der Einsatz von K.-o.-Tropfen in Bremen nicht, wie der Verein auf dpa-Anfrage erklärte. Zudem handle es sich bei den gemeldeten Verdachtsfällen um eine sehr geringe Anzahl. Es sei dem Verein aber ein grosses Anliegen, dieses Thema offensiv anzugehen.
Die Dunkelziffer betroffener Frauen dürfte hoch sein
Auf Anfrage erklärte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dass keine Zahlen dazu vorliegen würden, wie viele Personen in Fussballstadien von sexueller Belästigung oder Gewalt betroffen sind und wie viele im Nachgang Anzeige erstatten. Die aktive Fanszene spricht von sechs Fällen in der jüngeren Vergangenheit. Vereins-Ansprechpartner Arne Stratmann sagte aber auch: "Ich gehe fest davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist."
Bei den Konzepten steht der Schutz der Betroffenen im Mittelpunkt. Bei der Hertha tragen die Helferinnen und Helfer beispielsweise pinke Westen, um schnell wahrgenommen zu werden. Ein Rückzugsort steht bereit, dazu auch eine psychosoziale Notfallbetreuung. "Wo ist Lotte" dient als Codewort. Es soll helfen, die Hemmschwelle zu überwinden und den Vorfall anzusprechen und zu melden.
Betroffene beschreibt sexuellen Übergriff beim Einlass zu Spiel bei Hertha BSC
Eine Betroffene berichtete dem Berliner Bundesligisten für einen Beitrag auf der Homepage zum Schutzkonzept über einen sexuellen Übergriff beim Einlass ins Stadion. Sie habe den Mann von sich gestossen und ihn gefragt, was das solle. Sie habe auch laut beschrieben, was er getan hatte und währenddessen Blickkontakt zum umstehenden Security-Personal aufgebaut. "Von den Freunden bzw. männlichen Begleitungen der übergriffigen Person bekam ich folgende Antwort: 'Hab dich mal nicht so. Das ist doch ganz normal als Frau im Fussballstadion'", berichtete sie.
"Früher sind Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wahrscheinlich einfach nicht mehr zum Fussball gegangen, weil sie wenig Chancen gesehen haben, sich zu wehren beziehungsweise Unterstützung vom Verein zu bekommen", betonte Gabler. Früher seien betroffene Personen mit ihren Bedürfnissen vergessen worden.

Experte Gabler von der Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit hält es dabei nicht für entscheidend, ob es sich um ein jüngeres oder älteres Publikum handelt. "Wir haben eher die Erfahrung gemacht, dass es bestimmte Orte gibt, die gefährlich sind", berichtete er. Und diese seien dort, wo Gedränge herrsche. "Das sind Risikomomente." Gleichzeitig hätten sie erfahren, "dass auch der Business-Bereich ein gefährlicher Ort sein kann und insbesondere das weibliche Personal dort immer wieder mit sexistischen Bemerkungen konfrontiert wird bis hin zu übergriffigem Verhalten".
"Dass es nun auch den Fussball trifft, ist in gewisser Weise erschreckend, aber im Grunde auch naheliegend, weil der Fussball letztlich auch nur ein Abbild der Gesellschaft - mit allen Highlights, aber auch negativen Entwicklungen - ist", sagte der Leiter der Fan- und Fussballforschung von der Universität Würzburg, Harald Lange, der dpa. Er fügte jedoch hinzu: "Ich war überrascht, als ich davon gehört habe, weil ich mir das bislang nicht hätte vorstellen können, dass in dieser Heiterkeit und Euphorie des Fussballs K.-o.-Tropfen plötzlich eine Rolle spielen."
Warum werden heimlich K.-o.-Tropfen verabreicht?
K.-o.-Tropfen wirken üblicherweise wie Drogen und können zur Bewusstlosigkeit führen. Täter nutzen diese Zeit für Sexualdelikte oder zum Ausrauben. Die Opfer können sich hinterher meist nicht mehr richtig daran erinnern. In Bezug auf sexualisierte Gewalt in Fussballstadien sei die Aufmerksamkeit für dieses Thema in den vergangenen Jahren sehr gestiegen, betonte Gabler.
Seiner Ansicht nach hätten entsprechende Vorfälle aber nicht signifikant zugenommen. "Sexualisierte Gewalt und offen artikulierter Sexismus sind keine neuen Phänomene und keine, die nur auf den Fussball begrenzt sind. Aber Räume, wo sehr viele Männer sind und traditionelle Männlichkeitsvorstellungen dominieren, sind Orte, wo diese Phänomene besonders offen zutage treten. Sexismus ist im Fussball darum sehr präsent", sagte Gabler. In einer Oldschool-Fankultur würden sexuell aufgeladene Sprüche irgendwie noch dazu gehören, ergänzte Lange.
Der Genuss von Alkohol spielt eine entscheidende Rolle
"Eine andere Rolle spielt die Enthemmung", betonte Gabler. "Der Alkoholkonsum bei Fussballspielen ist ein Risikofaktor bei sexualisierter Gewalt. Diese Kombination aus Enthemmung durch viel Alkoholkonsum und Männer, die denken, sich im Stadion sexistisch verhalten zu können, machen das Fussballstadion schon zu einem Ort, an dem die Gefahr erhöht ist."
Mehr Diversität kann laut Lange bei der weiteren Problembehandlung helfen. Bei praktisch allen Vereinen sei die Entwicklung zu beobachten, dass sie mehr Frauen und mehr Familien für den Stadionbesuch gewinnen wollen. Nach wie vor seien Frauen im Stadion aber unterrepräsentiert, betonte Gabler. (dpa/hau)