Man kann Manuel Gräfe nur ein Kompliment machen. Erneut hat der Bundesliga-Schiedsrichter aus Berlin den Mut, die Dinge, die ihn beim DFB stören, beim Namen zu nennen und anzuprangern.
Leistungsprinzip, Videobeweis, Eignungstest: Jeder Interview-Satz im Montagskicker ist eine kritische wie differenzierte Bestandsaufnahme, wie es in Deutschland um das Schiedsrichterwesen bestellt ist. Offenbar nicht zum besten.
Am Wochenende konnte man es wieder erleben. Die Schiedsrichter haben die Vereine darüber informiert, dass ein Verstoss gegen die eine Regel, die Fairplay und Respekt auf dem Fussballplatz verlangt, schneller mit Gelb bestraft wird. Rudelbildung und lautstarker Protest zum Beispiel sollten damit unterbunden werden. Der Ansatz ist komplett richtig. Aber prompt schlug die gute Absicht ins Extreme aus. Diesmal traf es Werder Bremen.
Beim 1:0 in Düsseldorf sah Niklas Moisander zwei Mitspieler nach einem Crash am Boden. In der Hitze des Kellerduells tat er, was ein vorbildlicher Kapitän halt tut: Mit aller Emotion ging Moisander in den nur verbalen Schlagabtausch. Schiedsrichter Felix Brych blieb keine Wahl: Er, einer der drei besten deutschen Schiedsrichter und damit unter Beobachtung, folgte der neuen Richtlinie und gab Moisander, weil der schon Gelb hatte, Gelb-Rot.
Der Platzverweis offenbart das Missverhältnis zwischen der zweifelsfrei berechtigten Verbesserung und der praktischen Anwendung. Hätte Brych dem Werderaner kein zweites Gelb gezeigt, hätte sich niemand beschwert. Jeder hätte verstanden, warum Moisander sich aufregt, und Nachsicht für angebracht gehalten. Er hat nicht auf Zeit gespielt, keinen Aufstand initiiert, keinen Gegenspieler mutwillig gefoppt. Er war: ein Fussballer.
Schiri Gräfe würde Videobeweis-Regeln gerne ändern
Schiri-Chef Lutz Michael Fröhlich aber sieht das Regelwerk korrekt angewandt. Im Live-Gespräch beim SPORT1 Doppelpass am Sonntag sah er keine Veranlassung für ein Zugeständnis, dass Fussball eben nicht immer schwarz oder weiss ist. Und hier sind wir wieder bei Manuel Gräfe: Er sieht das genauso. Bei der Beurteilung kommen ihm "Spielmanagement und eine hohe Entscheidungsqualität zu kurz". Was zu oft zählt: nur Fitness.
In der Bundesliga pfeifen ja nicht die im Land besten Schiedsrichter, sondern allenfalls die besten aus der jeweiligen Region. Proporzdenken aber hat selten etwas Gutes: Da entscheidet nicht die Leistung, sondern die Herkunft. Gräfe sagt: "Es geht aus meiner Sicht zu oft immer noch nach Politischem, Regionalem oder Persönlichem." Er, vielleicht Deutschlands bester Schiri, durfte in der Hinrunde nur sechs Bundesliga-Spiele pfeifen.
Dabei sind seine Vorschläge konstruktiv, nachvollziehbar und definitiv diskussionswürdig. Zum Beispiel beim Videobeweis (VAR: Video Assistant Referee). Er fordert, dass er dem Publikum seine VAR-Entscheidung gerne am Mikrofon erklären würde; dann wüssten im Stadion alle Bescheid. Er findet Team Challenges gut: Der Trainer meldet, wann er eine Schiri-Entscheidung überprüft haben will; zwei pro Spiel sollten erlaubt sein. Man merkt sofort: Da redet einer aus der Praxis.
Zu oft erlebten wir in der Vergangenheit Regeln und Regelanwendungen, die das Spiel bestenfalls störten. Man muss nur an die umstrittene Handregel denken. Bundesliga-Schiedsrichter können die Auslegung sofort erklären; der normale Fan aber nicht. Werder-Trainer Kohfeldt hat schon recht: Zu viele Regeländerungen bestehen den Stresstest im Liga-Alltag nicht. Manchmal fragt man sich: Für wen sind diese Regeln eigentlich?

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