Zu schnell zu viel von sich zu erzählen – das kann jedem mal passieren. Doch ab wann spricht man dabei von "Oversharing"? Und wie problematisch ist es, wenn man schon beim ersten Date sehr privat wird? Eine Psychologin und Paartherapeutin hat Antworten.
Stellen Sie sich vor: Sie sind auf einem ersten Date und unterhalten sich angeregt. Auf einmal geht das Gespräch in eine tiefere Richtung und Ihr Gegenüber erzählt Ihnen etwas sehr Privates oder Intimes. Für manche könnte das schon zu viel Information über diese eigentlich noch fremde Person sein. In so einem Fall spricht man von "Oversharing".
Wie gehe ich damit um, wenn jemand schon in der Kennenlernphase offenherzig intime Details von sich erzählt? Kann es gerade im Kontext von Dating nicht sogar gut sein, früh Gespräche mit Tiefgang zu führen und dem potenziellen neuen Partner offen zu zeigen, wer man ist und was einen beschäftigt?
Die Psychologin und Paartherapeutin Anouk Algermissen hat Tipps, wie man mit solchen Situationen umgehen kann und erklärt, was man dabei im Hinterkopf behalten sollte.
Woran erkennt man sogenanntes "Oversharing"?
Anouk Algermissen: Meistens daran, dass man nach dem Gespräch als zuhörende Person das Gefühl hat, man wurde ein bisschen überrannt und es zu viel auf einmal war.
Und als Person, die "overshared" hat?
Die Person, die gesprochen hat, merkt meistens hinterher, dass sie etwas zu viel Information preisgegeben hat – und manchmal ist es der Person im Nachgang auch ein bisschen peinlich, so viel erzählt zu haben.
Warum erzählt man manchmal mehr, als gut wäre?
Das klassische "Oversharing" passiert unbewusst. Ich stelle oft fest, dass es eine Art Reaktion auf Aufregung ist. Wenn man beispielweise sehr aufgeregt vor einem Date ist oder unbedingt was Interessantes erzählen möchte, kann es schnell passieren, dass man über die Stränge schlägt und Sachen erzählt, bei denen man sich hinterher denkt: "Oh, das war jetzt vielleicht ein bisschen zu viel."
Sie sagen also, "Oversharing" ist in der Regel ein Versehen?
Meistens ja. Menschen, die mit Vorsatz zu viel von sich teilen, sehe ich deutlich seltener.
Warum sollte man denn absichtlich zu viel von sich preisgeben?
Diese Menschen wollen schauen, ob ihr Gegenüber wirklich mit ihnen umgehen kann. Sie wurden dann meistens schon häufiger verletzt und vielleicht auch für das, was sie sind, verurteilt. Die Logik dahinter ist: "Ich knalle dir jetzt einfach richtig vor den Kopf, wer ich bin und was zu mir gehört, um dich zu testen und um zu gucken, ob du dann noch immer bei mir bleibst." So ein Verhalten entsteht aus einer Angst heraus, um sich vermeintlich abzusichern. Aber das sehe ich deutlich seltener als dieses klassische "Oversharing", das aus einer Anspannung oder einer Nervosität heraus entsteht.
Wo "Oversharing" beginnt, ist dann aber auch individuelles Empfinden, oder?
Genau. Manche Leute würden sagen, "das war ein tiefsinniges Gespräch, das fand ich total gut", und vielleicht würde aber eine andere Person sagen, "das war 'Oversharing', weil ich mich davon irgendwie überrannt gefühlt habe." Da gibt es keine klassische Grenze. Es geht am Ende darum, wie man das selbst einordnet. Andersherum gilt natürlich das gleiche.
Wie meinen Sie das?
Nach einem Date kann es gut sein, dass man seiner Freundin sagt: "Ich habe das Gefühl, ich habe zu viel von mir erzählt." Und die Freundin empfindet dann das, worüber man gesprochen hat, als völlig normal. Da gibt es keine allgemeingültige Grenze, ab wann etwas zu viel oder zu wenig ist.
Gibt es dennoch Themen, bei denen Sie dazu raten würden, sie erst einmal nicht anzusprechen – gerade, wenn man sich noch nicht gut kennt?
Das ist auch individuell. Generell würde ich mich aber immer fragen: Wie viel Basis an Vertrauen haben wir schon gelegt? Beim Dating handelt es sich um einen Prozess, bei dem man sich im besten Fall immer ein bisschen mehr öffnet. Und dadurch entsteht dann stückweise Vertrauen. Und im besten Fall sind die Themen dem Vertrauen zueinander angepasst. Es müssen sich beide wohlfühlen, aber natürlich gehört auch mal ein bisschen Mut dazu, sich zu öffnen. Die Mischung macht's.
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Das heisst, durch den Prozess des Kennenlernens entsteht Vertrauen und je mehr Vertrauen da ist, desto tiefere Themen kann ich guten Gewissens ansprechen?
Ja und nein. Wenn ich beim ersten Date merke, dass wir uns besonders gut verstehen, ich mich mit der Person sicher fühle und da auch eine Offenheit von ihrer Seite ist, kann ich natürlich beim ersten Date auch schon tiefere oder schwierigere Themen ansprechen. Aber die Menschen sind unterschiedlich und brauchen unterschiedlich lange, um sich kennenzulernen und zu vertrauen. Wenn ich merke, wir brauchen dafür ein bisschen länger, fühlt es sich wahrscheinlich für beide besser an, erst nach dem dritten, vierten oder fünften Date über Themen zu sprechen, die einen verletzlicher machen.
Wann wird "Oversharing" denn zu einem Problem?
Ein Problem wird es dann, wenn man die zuhörende Person mit den Gefühlen überfährt und ins Straucheln bringt.
Woran kann man das festmachen?
Beispielsweise an der Körpersprache. Wenn ich ohne Punkt und Komma von mir erzähle und merke, die andere Person nimmt vielleicht eine verschränkte Haltung ein, kann das ein Signal sein. Auch könnte mir auffallen, dass auf das, was ich sage, gar keine Resonanz kommt. Das wären Momente, in denen es wichtig ist, kurz innenzuhalten, um einmal gegenzuchecken, ob da überhaupt eine Offenheit da ist für das, was ich hier gerade teile. Denn wenn man beim "Oversharing" in einen Tunnel gerät, in dem man einfach durchzieht und gar nicht mehr auf die Signale des anderen achtet, wird es problematisch.
Was könnte das bei meinem Gegenüber auslösen?
Für mein Gegenüber kann es sich anfühlen, als würde ich einfach meinen emotionalen Ballast auf ihn oder sie draufladen und somit sozusagen zu einem Werkzeug machen, um mich leichter zu fühlen. Aber das wird in den meisten Fällen dazu führen, dass man einen Widerstand bei seinem Gegenüber erlebt oder sogar die persönlichen Grenzen überschreitet. Und beides ist nicht hilfreich, um eine Beziehung aufzubauen.
Es kann also dazu führen, dass die zuhörende Person durch "Oversharing" eher den Rückzug antritt?
Das kann passieren. Es kann auch sein, dass sie ein bisschen ärgerlich reagiert. Da ist jeder Mensch wieder sehr individuell in der Reaktion.
"Manche Paare sind 10 oder sogar 20 Jahre zusammen und brauchen immer noch Mut, um gewisse Dinge von sich zu erzählen."
Gibt es irgendeinen Punkt beim Kennenlernen, an dem die Vertrauensbasis für tiefere Themen erreicht sein sollte, sodass von "Oversharing" keine Rede mehr sein kann?
Eine Vertrauensbasis sollte im Idealfall Schritt für Schritt aufgebaut werden. Aber das Interessante ist, es hört auch nicht auf. Es ist nicht so, dass nur weil man irgendwann ein Paar ist, man dann ab einem bestimmten Zeitpunkt auch alles von sich geteilt hat, das Vertrauen bei 100 Prozent ist und damit hat es sich dann. Das sehe ich auch öfter bei den Paaren, mit denen ich arbeite: Manche Paare sind 10 oder sogar 20 Jahre zusammen und brauchen immer noch Mut, um gewisse Dinge von sich zu erzählen. Und das ist auch ganz natürlich. Aber ich würde trotzdem sagen, dass es gewisse Dinge gibt, die man von dem anderen wissen sollte, bevor man eine feste Beziehung eingeht.
Welche Dinge wären das?
Zum Beispiel: Wie reagiere ich, wenn ich gestresst bin oder wenn es mir nicht gut geht? Was brauche ich dann? Dieser Moment wird in einer Beziehung auf jeden Fall mal eintreten. Auch sollte man im Vorhinein klären, wie hoch das eigene Bedürfnis nach Nähe versus Freiheit ist. Man sollte auch wissen, ob der andere mehr Me-Time oder mehr Zeit zusammen braucht. Neben grösseren Dingen wie Werten, Lebenseinstellungen für die Zukunft, ob ein Kinderwunsch da ist und so weiter sind das wichtige Punkte, die man miteinander geklärt haben sollte, bevor man eine Beziehung eingeht.
Ein Beispiel: Ich treffe jemanden, mit dem ich schon begonnen habe, eine Vertrauensbasis aufzubauen. Und bei einem Gespräch fällt mir eine Geschichte über einen Ex-Partner oder eine Ex-Partnerin ein, weil es gerade zum Thema passt oder ich das Gefühl habe, es ist für die Person, die ich gerade kennenlerne, wichtig, diese Geschichte über mich zu kennen. Kann ich das dann bedenkenlos erzählen?
Wenn es ein wichtiges Thema ist, sollte man darüber sprechen. Allerdings sollte man immer prüfen, ob es der richtige Zeitpunkt dafür ist. Um abzuklären, ob die andere Person das überhaupt wissen will, lohnt es sich vorher nachzufragen. Im Sinne von: "Hey, mir kommt gerade diese Geschichte in den Sinn, da geht es aber um meinen Ex-Freund. Hättest du Lust, das zu hören?" Das macht den Gesprächsfluss viel einfacher und man hat nicht das Gefühl, wie auf Eierschalen laufen zu müssen.
Drehen wir die Situation um: Mir wird etwas erzählt, wovon ich mich überfahren fühle. Sollte ich das ansprechen?
Wenn man das Gefühl hat, man steht mit dem Rücken zur Wand und man weiss gar nicht, was man mit diesen ganzen Emotionen tun soll, ist es wichtig, seine Grenzen aufzuzeigen. Das kann man schliesslich auch sehr höflich und freundlich machen, indem man so was sagt wie: "Das Thema scheint dir sehr wichtig zu sein. Ich weiss aber gerade nicht, wie ich damit umgehen soll." Oder: "Ich bin gerade ein bisschen überfordert von der Situation und ich weiss leider nicht, wie ich darauf antworten kann." Eine andere Möglichkeit wäre: "Ich weiss nicht, ob ich für das Thema schon bereit bin. Können wir das vielleicht in der nächsten Zeit nochmal besprechen?" Viele Leute setzen das Abstecken von eigenen Grenzen direkt mit Unfreundlichkeit gleich – dabei kann ich sehr freundlich und auch liebevoll sagen, dass mir etwas zu viel ist.
Und wie stehen Sie zu dem Argument, dass es ja eigentlich auch nur fair gegenüber dem Datingpartner oder der -partnerin ist, gewisse Dinge, die mich geprägt haben oder etwas in mir auslösen, früh zu thematisieren? Beispielsweise, wenn ich mit Depressionen kämpfe oder eine toxische Beziehung hinter mir habe. Solche Erfahrungen können schliesslich Einfluss auf eine neue Beziehung haben. Möglicherweise möchte oder kann mein Gegenüber damit langfristig nicht umgehen.
Ich denke schon, dass es sinnvoll ist, mit solch wichtigen Themen nicht allzu lange zu warten. Aber auch da gibt es keinen perfekten Zeitpunkt. Ich glaube, davon muss man sich ganz allgemein lösen. Manchmal kommen solche Themen auch von selbst auf.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn ich von meinem Date nach meinem Tag gefragt werde und ich merke, mein Tag war eigentlich ziemlich mies, weil ich vielleicht eine depressive Episode hatte und es mich viel Überwindung gekostet hat, überhaupt zu diesem Date zu gehen. Jetzt bin ich aber hier und stolz darauf – dann kann ich das ruhig sagen. Niemand sollte lügen müssen, wenn ihn das Thema beschäftigt. Dabei muss man ja auch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Man könnte beispielsweise sagen: "Das war heute nicht so einfach für mich, ich hatte nicht den besten Tag, aber ich bin ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich für das Date fertiggemacht habe und freue mich jetzt, hier zu sein." Anhand der Resonanz des anderen merke ich dann ja, ob mein Gegenüber überhaupt in der Lage ist, mit mir ein bisschen tiefer zu gehen.
"Das Kennenlernen ist ein bisschen wie ein Tanz."
Das heisst, ich kann ein tieferes Gespräch vorsichtig beginnen und schauen, was ich zurückgespielt bekomme und so stückweise die Vertrauensbasis für schwierige Themen aufbauen.
Genau. Das Kennenlernen ist ein bisschen wie ein Tanz. Ich mache einen Schritt, du machst einen Schritt. Entweder du trittst mir auf den Fuss oder wir merken, dass es gut funktioniert. Und je besser wir uns einspielen, desto weiter kann ich mich öffnen. Viele glauben, es ist eine Entweder-oder-Frage: Entweder ich bin jetzt komplett verschlossen oder ich bin von Anfang an sofort offen. Aber dann habe ich ja die andere Person gar nicht mit reinfaktorisiert. Dann könnte ich ja mit irgendwem – oder auch mit niemandem – auf ein Date gehen. Es geht immer um die Dynamik zwischen uns beiden. Es geht darum, wie wir beide in Kontakt miteinander sind und wie es sich anfühlt, mich dir zu öffnen. Wie ist deine Resonanz auf mich? Wie fühle ich mich in deiner Umgebung? Wie weit kann ich mich öffnen?
Wenn ich also auf einem Date bin und mir wird für meinen Geschmack zu schnell zu viel Privates erzählt, sollte ich entweder freundlich meine Grenzen aufzeigen oder mir ins Gedächtnis rufen, dass mein Gegenüber möglicherweise gerade nur sehr aufgeregt ist?
Ja, genau. Natürlich muss man, wenn sich mehr Vertrauen aufgebaut hat, schauen, ob solche Gespräche mit der Zeit angenehmer werden und die andere Person dann mehr auf meine Resonanz achtet. Wenn sie das nie tut, fehlt es da möglicherweise an Empathie. Das kann ein sehr wichtiger Punkt sein, ob man mit der Person eine Beziehung eingehen möchte oder nicht. Aber es kann auch sehr gut sein, dass sich dieses "Oversharing" nach dem ersten, zweiten, dritten Date legt, weil die Person dann sicherer mit mir geworden ist.
Über die Gesprächspartnerin
- Anouk Algermissen ist Psychologin und Paartherapeutin mit eigener Praxis in Bonn. Zudem ist sie Autorin eines Beziehungsratgebers.