Reutlingen - Der sprichwörtliche Dienst nach Vorschrift ist aktuell bei vielen angesagt - das zeigt zum Beispiel der Gallup Engagement Index. Der Studie zufolge machen in Deutschland inzwischen 78 Prozent der Arbeitnehmenden in ihrem Job nur noch das Nötigste.

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Sabine Votteler ist Coachin und berät überwiegend Menschen über 50 bei ihren Karriereentscheidungen. Sie sieht diesen Trend auch und gerade bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Im Interview erklärt sie, wie man aus dieser "innerlichen Kapitulation" im Arbeitsleben herausfindet und wann es sinnvoll ist, sich beruflich neu zu orientieren.

Frage: Frau Votteler, warum machen derzeit so viele Menschen - auch über 50 - nur noch Dienst nach Vorschrift?

Sabine Votteler: Viele sind innerlich müde. Sie spüren, dass sie irgendwas ändern müssten, aber sie wissen nicht wie. Sie finden ihre Arbeit immer sinnloser, haben das Gefühl, sie werden nicht mehr wertgeschätzt. Der Einsatz, den sie bringen, hat keine Wirkung mehr. Und dann findet so eine stille Kapitulation statt. Das ist gar nichts, was bewusst gegen den Arbeitgeber geht, sondern eher Resignation.

Dieser Rückzug ist aktuell oft auch eine Reaktion auf den Kostendruck und damit verbundene Restrukturierungen, die bei vielen Arbeitgebern aufgrund der wirtschaftlichen Lage angesagt sind. Viele haben das Gefühl, dass die Unternehmenskultur verloren geht, das verstärkt ihre Entfremdung vom Arbeitgeber zusätzlich.

In meiner Beratung begegnet mir oft auch das Gefühl von: "Im Zweifel fördert oder schützt mich mein Arbeitgeber auch nicht. Und er kommuniziert auch nicht ehrlich." Da geht das Vertrauen einfach verloren.

Teils liegt es aber auch an Menschen in der Mitte des Lebens selbst. Oft verändern sich gerade dann Prioritäten, verschieben sich Werte. Da ist man nicht mehr zufrieden, wenn man das immer höheres Gehalt und den immer grösseren Firmenwagen und den immer bedeutenderen Titel bekommt. Da findet innerlich ein Umbruch statt, viele überlegen sich: Was macht das überhaupt für einen Sinn, was ich hier tue?

Sabine Votteler
Sabine Votteler ist Coachin für berufliche Neuorientierung und berät überwiegend Menschen über 50 bei ihren Karriereentscheidungen. © dpa / Christian Kasper/Sabine Votteler/dpa-tmn

Frage: Wo liegt denn das Problem, wenn Beschäftigte im Job nur noch das Nötigste machen - und warum ist die Situation für Menschen jenseits der 50 besonders?

Votteler: Es ist natürlich einerseits schade, wenn man bloss noch das macht, was absolut notwendig ist, aber nicht mehr das, was man eigentlich könnte.

Die Arbeit macht bei den meisten einen grossen Teil ihres Lebens aus. Gerade wenn man schon einiges an Berufserfahrungen hat, ist die Arbeit ein riesiger Teil unserer Identität. Da ist es besonders schwierig, einen Job loszulassen. Denn man ist der Job.

Ältere Berufstätige leiden also unter der Situation, haben aber gleichzeitig das Gefühl, sie sind abhängig und stecken fest. Weil sie natürlich Bedenken haben, ob sie mit Ü50 noch eine reale Chance auf einen adäquaten Job haben.

Da gibt es diese Angst, vielleicht nicht mehr vermittelbar zu sein, keinen gleichwertigen Job mehr zu finden, vor Statusverlust, vor finanziellen Einbussen und so weiter. Man hat in dieser Lebensphase oft auch verhältnismässig viele Verpflichtungen und das macht die Leute vorsichtig.

Viele denken: Dann bleibe ich doch lieber, wo ich bin, weil ich nicht glaube, dass ich eine Alternative habe. Und das ist toxisch, weil man somit noch mehr an Selbstkontrolle aufgibt. Das ist etwas, was aus meiner Erfahrung letztendlich auch in einen Burn-out führen kann.

Frage: Wie kommt man nun aus diesem Dilemma wieder heraus?

Votteler: Der erste Schritt ist immer, sich klarzumachen, dass es so nicht weitergeht. Der Schlüssel zur Lösung ist nicht dort stehenzubleiben, wo man ist, sondern sich in kleinen Schritten von der Stelle zu bewegen.

Was wichtig dabei ist: Es geht nicht darum, sofort die perfekte Lösung zu finden - auch wenn das in der Regel unser Anspruch ist. Wir glauben, wir müssen jetzt die passende Idee oder das Jobangebot haben, erst dann können wir etwas ändern. Aber so wird es nicht passieren.

Man findet nicht sofort die perfekte Lösung, sofort den fertigen neuen Plan für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre. Man muss in kleinen Schritten vorgehen und auf dem Weg sich allmählich neue Einsichten, neue Perspektiven und neue Ideen und damit auch neue Möglichkeiten.

Frage: Wie können solche Schritte konkret aussehen?

Votteler: Wichtig ist, dass man herausfindet: Was fehlt mir eigentlich und was treibt mich an? Und sich dann kreativ zu überlegen: Was könnten Möglichkeiten für mich sein, jenseits von dem, was ich bisher gemacht habe und wie könnte ich das ausprobieren?

Jetzt denken sicher viele: Ausprobieren? Wie soll das gehen? Ich finde ja vielleicht eh nur schwer einen Job. Ich nenne es Prototyping - also Prototypen, kleine Tests machen. Das kann im einfachsten Fall ein Gespräch mit jemandem sein, der etwas macht, das einen interessiert. Da muss ich nicht mal wissen, ob ich genau das auch machen will.

Oder ich mache eine Fortbildung zu einem Thema, das mich interessiert, ohne dass ich mir vorher schon die Strategie zurechtgelegt habe, warum es genau diese Fortbildung braucht. In dieser Phase darf man experimentieren. Das kann zum Beispiel ein Ehrenamt oder eine nebenberufliche Selbstständigkeit sein. Einfach nur, um andere Perspektiven und neue Seiten an sich selbst kennenzulernen.

Frage: Und wie überwindet man Ängste vor Veränderung oder gar einem Karriereeinbruch?

Votteler: Für die Psyche ist gerade das Ausprobieren wertvoll, weil man merkt: Es gibt noch ganz andere Lebensentwürfe als der, den ich jetzt schon seit zig Jahren lebe. Es gibt einfach die unterschiedlichsten Möglichkeiten da draussen in der Welt, wenn ich nicht nur in meinem Lebenslauf denke.

Durch Optionen verringern sich Ängste, weil wir uns dann nicht mehr so abhängig fühlen. Durch Nachdenken kommen wir immer eher in dieses Negativkarussell, wo die Angst und die Hürden grösser werden. Wenn ich Dinge tue, in Bewegung komme, dann verschwinden Ängste.

Oft merken Menschen in dem Prozess auch, dass sich ihre Ziele und Werte verändert haben, seit sie ins Berufsleben gestartet sind - und sie unter Umständen auch mit weniger auskommen als sie derzeit haben, weil etwas anderes wichtiger geworden ist.

Frage: Muss ich am Ende immer den Job wechseln, wenn ich wieder zu alter Motivation zurückkehren will?

Votteler: Nein, das muss ich nicht. Wenn ich in meiner Reflexion festgestellt habe, was mich eigentlich so stört und woher meine Unzufriedenheit kommt, kann ich auch definieren, wie ich das Problem angehen will.

Wenn es beispielsweise um mangelnde Wertschätzung geht, dann hat es meistens irgendwas mit Menschen zu tun, vielleicht mit meinen Vorgesetzten, vielleicht mit meinen Kollegen. Dann muss ich gucken: Helfen Gespräche?

Manchmal kann man auch innerhalb eines Unternehmens die Rolle wechseln. Und manchmal reicht es auch, temporär auszusetzen - zum Beispiel während eines Sabbaticals. Vielleicht hilft schon dieser Abstand, wieder aufzutanken und die Dinge ein bisschen zu relativieren.

Und manchmal kann man auch innerhalb des Unternehmens neue Dinge anzetteln, die einem dann wieder Energie geben. Ich habe zum Beispiel einen Kunden, der wahnsinnig gerne Trainings macht. Das ist aber nicht sein Job. Er hat jetzt aber angeregt, diverse interne Trainings anzubieten. Und siehe da, der Konzern fand die Idee gut.

Allerdings: Wenn man wirklich seit Jahren innerlich schon ausgestiegen ist, sich total überfordert oder leer fühlt, einfach gelangweilt oder sehr verunsichert ist, ist es oft mit einer kosmetischen Korrektur nicht mehr getan - insbesondere, wenn wirklich grosse Umstrukturierungen stattfinden, die Ängste verursachen. Dann braucht es wirklich etwas ganz anderes.

Zur Person: Sabine Votteler war über 20 Jahre lang Führungskraft, bevor sie sich 2014 selbstständig machte. Heute arbeitet sie als Coachin für berufliche Neuorientierung in Reutlingen.  © Deutsche Presse-Agentur