Martina Clavadetscher ist eine erstaunlich vielseitige Autorin. In ihrem neuen Roman "Die Schrecken der anderen" spielt die Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2021 geschickt mit dem Genre des Krimis und verleiht ihm eine politische Note.
Das Ödwilerfeld ist, wie der Name sagt, eine stille Gegend irgendwo im Inneren der Schweiz, am Fusse des zerklüfteten Frakmonts, der in Winterstarre verharrt. Die Menschen hier wirken behäbig und verstockt. Doch als eine Leiche im gefrorenen See auftaucht, geraten die Dinge in Bewegung.
Der Tote heisst McGuffin und spielt die Rolle einer Nebenfigur. Er ist Auslöser für eine Erzählung, die Martina Clavadetscher mit behutsamer Konsequenz entwickelt. Die Geschichte handelt von alten Mythen und ihrer verfluchten Wiederkehr in der "holprigen" Gegenwart.
Geheimer Männer-Zirkel
Die lebenskluge, vitale Rosa interessiert sich für die Leiche. Mit Hilfe des Archivars Schibig stellt sie eigene Untersuchungen an. Dabei kommt heraus, dass eine Spur von McGuffin zum reichen Unternehmer Kern führt, der wiederum zu einem geheimen Zirkel von Männern gehört, die sich im öffentlichen Leben harmlos bieder geben.
Mit "Die Schrecken der anderen" schlägt Clavadetscher einen für sie neuen Ton an. Nach den Ausflügen in die digitale Zukunft ("Die Erfindung des Ungehorsams", 2021) und den Betrachtungen zu Frauen in der Kunst ("Vor aller Augen", 2022) spielt sie hier mit dem Genre des Kriminalromans. Allerdings geht es ihr weniger um einen spannenden Plot. Sie will vielmehr eine Atmosphäre akkurat einfangen, die sie wie hinter einem "klebrigen Schleier" beschreibt. Die Autorin kennt sich in der helvetischen Provinz aus, sie ist in Zug geboren und in Brunnen aufgewachsen.
Matschig braune Landschaft
"Während wir uns fragen, was wir überhaupt suchen, finden wir unentwegt etwas." Getreu dieses Leitsatzes stossen Rosa und Schibig auf ein Komplott, das ebenso bedrohlich wie lächerlich anmutet. Unter dem Ödwilerfeld brodelt es. Insgeheim wird der Aufstand geprobt. Im Adler, einem Gutshof, versammelt sich der "Bund vornehmer Herren", um an altes verstecktes Nazigeld heranzukommen und von einem privaten Königreich zu träumen. Unweit davon horten Jugendliche in einer Scheune Feuerwerk und Pamphlete und sinnen auf explosive Taten.
"Das Ganze hat seine Gründe", sagt Rosa. Tatsächlich spielen in dem Roman einige Motive eine Rolle, die in den letzten Jahren medial für Aufsehen gesorgt haben. Clavadetscher verlegt das Nazidenkmal von Chur, den fasnächtlichen Ku-Klux-Klan-Aufmarsch in Schwyz, die Aktionen der Jungen Tat oder die Debatte um Profite aus der Nazizeit in ihre fiktive Topographie. Je stärker die Schneedecke auf dem Ödwilerfeld abtaut, umso mehr kommt eine matschig braune Landschaft zum Vorschein.
Ambivalenz des Vergessens
"Die Schrecken der anderen" zeichnet ein Bild der Unruhe und Umtriebigkeit, in der sich Ängste vor Heimat- und vor allem vor Machtverlust ausdrücken. Dies betrifft alle, gibt Rosa zu verstehen: "Weil niemand jemals etwas aus den Schrecken der anderen lernt." Hartnäckig will sie "die vergessenen Fäden ins Sichtbare ziehen", damit die Menschen sich vor Wiederholungen hüten.
Clavadetscher zielt, trotz furiosem Finale, nicht darauf ab, ihren Plot in allen Details zu klären oder zu erklären. Wie ihre Heldin Rosa gibt sie sich keinen Illusionen hin. Die dunklen Machenschaften und reaktionären Hirngespinste scheuen das Licht. Ihr Buch fängt eher ein vielstimmiges Grollen ein, das verdrängte Ideen wieder an die Oberfläche spült. In den Köpfen gärt das Vergessen, das für Clavadetscher etwas Ambivalentes ist: "eine Notwendigkeit des Fortschritts und dessen Hindernis zugleich".
Stilistisch verzichtet sie auf poetische Experimente wie in früheren Büchern. Im erzählenden Präsens beschreibt sie mit betonter Bedachtsamkeit eine Atmosphäre, die ganz gegenwärtig wirkt. Clavadetscher verleiht ihr eine sanft pochende Dringlichkeit, mit der sie subtil die Spannung hält. Pointierte Aussagen und starke Metaphern schärfen hin und wieder die Konturen ihrer Erzählung. Ganz allmählich wachsen so die Schrecken der anderen auch den Lesern und Leserinnen zu.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA