Null Verkehrstote in einer Grossstadt in einem Jahr – was beinahe unmöglich klingt, hat die finnische Hauptstadt Helsinki geschafft. Aber wie? Und was können sich andere Städte davon abschauen?
Im Juli sorgte eine Nachricht aus Helsinki weltweit für Aufmerksamkeit: Innerhalb eines ganzen Jahres gab es dort keinen einzigen Verkehrstoten mehr. Die finnische Hauptstadt ist weltweit die einzige Grossstadt mit über 500.000 Einwohnern, der dies gelungen ist.
Es ist das Verdienst einer gut durchdachten Verkehrspolitik, die Sicherheit und Lebensqualität in den Mittelpunkt stellt. Diese Entwicklung ist aber keineswegs zufällig entstanden und auch kein vorübergehender Ausreisser. Sie ist vielmehr Ausdruck einer tiefgreifenden Transformation, die Helsinki seit den frühen 1990er-Jahren vollzogen hat.
Infolge der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992, auch Rio-Konferenz genannt, schloss sich die Stadt 1993 dem weltweit bedeutendsten Netzwerk für kommunale Nachhaltigkeit, ICLEI – Local Governments for Sustainability, an und wurde einer der Vorreiter, globale Klimaziele auf lokaler Ebene zu verankern.
Was ist ICLEI?
- Die Nichtregierungsorganisation ICLEI – Local Governments for Sustainability spielte 1992 bei der United Nations Conference on Environment and Development (UNCED), besser bekannt als Rio-Konferenz, als weltweiter Vertreter von Städten und Gemeinden eine zentrale Rolle. Während sich die Konferenz auf globale Umwelt- und Entwicklungsfragen konzentrierte, trug ICLEI massgeblich dazu bei, dass lokale Handlungsebenen in den Nachhaltigkeitsdiskurs integriert wurden.
- ICLEI war federführend an der Entwicklung der Lokalen Agenda 21 beteiligt, einem zentralen Bestandteil des Aktionsprogramms der Rio-Konferenz. Diese forderte Städte und Gemeinden weltweit auf, eigene Nachhaltigkeitsstrategien zu entwickeln. ICLEI übernahm in den Folgejahren die Koordination und Unterstützung Tausender Kommunen bei der Umsetzung dieser lokalen Agendas.
- Die Arbeit von ICLEI in Rio 1992 war der Ausgangspunkt für eine globale Bewegung kommunaler Nachhaltigkeitspolitik. Heute zählt das Netzwerk von ICLEI weltweit über 2.500 Mitgliedsstädte und ist eine der wichtigsten Plattformen im Bereich lokaler Klimaschutzstrategien.
Vukan R. Vuchic, emeritierter Professor der University of Pennsylvania und Autor des Standardwerks "Urban Transit for Liveable Cities", glaubt jedoch, dass die finnische Metropole weitere gute Voraussetzungen mitbrachte. "Helsinki ist eine recht junge Hauptstadt, die sich den Veränderungen der Moderne gegenüber stets offen gezeigt hat." Dazu gehöre eine menschenzentrierte Stadtplanung sowie die frühe Einführung der Strassenbahn, die bereits seit 1900 elektrifiziert war, sagt Vuchic. "Ausserdem haben wir es hier mit einer äusserst lernbereiten Kommunalverwaltung zu tun, die einen hohen Anteil an Frauen beschäftigt."
Dies wirke sich auf eine Haushaltsführung aus, die die Bedürfnisse der Mehrheit in den Mittelpunkt stelle, aber auch explizit Kinder und Senioren in ihren Planungen berücksichtige. Dabei habe sich die Stadt bewusst gegen die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs entschieden. Stattdessen wurde eine urbane Mobilitätsstrategie etabliert, die auf Entschleunigung, eine Umverteilung des Strassenraums und multimodale Angebote setzt, die für jeden Bedarf den passenden fahrbaren Untersatz bieten.
Die Logik der Entschleunigung: Tempo 30 als Fundament
Ein zentrales Element der Verkehrspolitik Helsinkis sind flächendeckend Tempo-30-Zonen. Auch hier gibt es allerdings historische Gründe, die die Einführung begünstigten: Weite Teile der Stadt, insbesondere der historische Kern, sind gepflastert. Die Pflastersteine, die bis heute aus der unmittelbaren Umgebung kommen, machen ein schnelleres Tempo kaum möglich.
Aber auch Bürgersteige und Radwege sind häufig gepflastert. Im Winter sind diese in der Innenstadt zudem in Teilen beheizt, um Unfälle durch Eis und Schnee zu verhindern. In der Hauptsache wird dazu Abwärme von Heizungsrohren und Warmwasserleitungen genutzt.
Die Tempobeschränkungen erwiesen sich nicht nur als symbolisch, sondern auch als empirisch wirksam: Laut der Stadtverwaltung sank die Zahl der Verkehrsunfälle mit Verletzten von rund 1.000 pro Jahr in den späten 1980er-Jahren auf nur noch 277 im Zeitraum Juli 2024 bis Juli 2025. Die Zahl der Verkehrstoten, die damals bei etwa 30 pro Jahr lag, wurde bis heute auf null reduziert.
Die Wirkung von Tempo 30 ist wissenschaftlich gut dokumentiert. Die Wahrscheinlichkeit tödlicher Verletzungen bei einem Zusammenprall mit einem Fahrzeug sinkt bei 30 km/h im Vergleich zu Tempo 50 um bis zu 90 Prozent. Zudem verbessert sich die Reaktionszeit für Fahrer, ebenso wie die Sichtbarkeit von Fussgängern und Radfahrenden. In Helsinki wurde diese Massnahme nicht nur in Wohngebieten und rund um Schulen, sondern selbst auf Hauptverkehrsstrassen umgesetzt – mit nachweisbarem Erfolg und mit Billigung der Bevölkerung. In finnischen Medien findet sich jedenfalls keine Kritik an den innerstädtischen Tempolimits.
Infrastruktur für aktive Mobilität und Entschleunigung
Neben der Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen hat die Kommune massiv in aktive Mobilität investiert. Neue, baulich getrennte Radwege, barrierefreie Gehsteige und grosszügige Fussgängerzonen prägen heute das Stadtbild. Helsinki möchte ein durchgängiges Netz schaffen, um von jedem Punkt der Stadt zu jedem anderen gelangen zu können, ohne in den individualmotorisierten Verkehr gezwungen zu werden.
Mit Erfolg: Bereits jetzt werden rund 75 Prozent aller Wege in Helsinki zu Fuss, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Ein so geringer Anteil des Autoverkehrs wird in vergleichbaren europäischen Städten nur selten erreicht. Die private Anschaffung von PKWs scheint daher zunehmend überflüssig. Der Rückgang an jungen Fahranfängern wirkt sich auch positiv auf die Unfallstatistik aus.
Der öffentliche Nahverkehr in Helsinki gilt unter Verkehrsplanern als vorbildlich und funktioniert selbst im tiefsten Winter reibungslos. Die Stadt unterhält ein dichtes Netz aus U- und S-Bahnen, Strassenbahnen, Bussen, Fähren und Regionalzügen sowie ein Fahrradverleihsystem, das kontinuierlich ausgebaut und modernisiert wird. Der aktuelle Verkehrsplan sieht bis Ende 2026 eine weitere Erhöhung der Taktfrequenz auf mehreren Strassenbahnlinien sowie den Ausbau neuer Verbindungen in die umliegenden Städte und Gemeinden vor.
Es sind diese hohe Qualität und Verlässlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs, die entscheidend zur Reduzierung des Autoverkehrs beigetragen haben. Studien zeigen, dass diese Faktoren in Helsinki direkt mit einem Rückgang schwerer Verkehrsunfälle korrelieren.
Digitale Steuerung und automatisierte Kontrolle
Ein weiterer Baustein der Mobilitätsstrategie ist die Digitalisierung, die bereits beim Erwerb der Fahrkarte beginnt. Eine aufladbare Chipkarte ermöglicht die kontaktlose Bezahlung durch simple Annäherung an den Automaten. Ausserdem lassen sich die Karten in einem internationalen Verkehrsverbund auch für Fahrten im ÖPNV der estnischen Hauptstadt Tallin und der dortigen Universitätsstadt Tartu verwenden. Viele Finnen nutzen die Nähe über den Finnischen Meerbusen für Wochenendbesuche in Estland.
Zu den digitalen Technologien, die hier ausserdem im Einsatz sind, gehören automatisierte Geschwindigkeitskontrollen, intelligente Ampelsysteme und datenbasierte Verkehrsanalyse-Systeme. Sie ermöglichen eine präzise Erfassung von Verkehrsflüssen, Baustellen und Unfällen. Mögliche Gefahrenstellen werden so frühzeitig erkannt und können rasch beseitigt oder abgesichert werden.
In diesem Zusammenhang spielt auch das Bussgeldsystem eine Rolle: In Finnland werden Verkehrsverstösse bereits seit vielen Jahren einkommensabhängig geahndet, was nicht nur soziale Gerechtigkeit fördert, sondern auch ein höheres Abschreckungspotenzial nach sich zieht.
Vision Zero als Leitprinzip
Die ursprünglich aus Schweden stammende "Vision Zero" ist ein weiteres Konzept, das Helsinki verfolgt, ist, um Verkehrstote grundsätzlich zu vermeiden. Während in manch anderen Grossstädten "Vision Zero" nur als abstraktes Ziel formuliert wird und in der Schublade verschwindet, ist es in Helsinki handlungsleitend.
Die Stadt unterzieht alle verkehrsbezogenen Entscheidungen einer Prüfung, ob sie zur Reduzierung von Unfallrisiken beitragen. Dieses Prinzip durchdringt die gesamte Stadtplanung – angefangen mit der Gestaltung von Kreuzungen über die Platzierung von Zebrastreifen und Fussgängerampeln bis hin zur Regulierung von E-Scootern.
Letztere stellen eine neue Herausforderung dar, der die Stadt mit innovativen Massnahmen begegnet: Tagsüber gilt für sie ein grundsätzliches Tempolimit von 20 km/h, nachts sogar von 15 km/h. In den Nächten vor freien Tagen sind Leih-Scooter abgeschaltet und können nicht gefahren werden, um alkoholbedingte Unfälle zu vermeiden.
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Finnland macht einmal mehr vor, wie Urbanität lebenswert gestaltet werden kann. Es ist damit ein Vorbild für Verkehrssicherheit und für eine Kultur der Mobilität, die nicht allein auf Geschwindigkeit und Effizienz setzt, sondern auf Rücksicht und Teilhabe.
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Verwendete Quellen
- nachhaltigkeit.info: Weltgipfel Rio de Janeiro, 1992
- Webseite des ICLEI – Local Governments for Sustainability
- worldtransitresearch.info: Transportation for Livable Cities
- helsinkidesignweek.com: The ground we tread in Helsinki
- yle.fi: Helsinki goes a full year without a traffic death
- International Transport Forum: Speed and Crash Risk
- hel.fi: Helsinki Traffic Safety Development Programme 2022–2026
- hsl.fi: One card for all journeys
- theguardian.com: Finnish businessman hit with €121,000 speeding fine
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