Wer an einer Demenz erkrankt, verliert früher oder später die Fähigkeit, Auto zu fahren. Doch wie stellt man fest, dass es so weit ist?

Ein 87-jähriger Mann ist auf dem Heimweg von einem Besuch bei seiner Tochter. Wegen einer Baustelle muss er einen Umweg nehmen. Beim Linksabbiegen an einer Kreuzung gerät er in den Gegenverkehr, setzt zurück, prallt gegen ein Strassenschild und fährt nach Hause. Später behauptet er, die Kreuzung sei ein Kreisverkehr gewesen.

Es sind solche Fälle, die bei Thomas Günnewig landen. Er ist Chefarzt der Geriatrie/Neurologie am Elisabeth Krankenhaus Recklinghausen. In solchen Fällen kommt er zu dem Schluss: "Fahren können Sie nicht mehr!"

Günnewig untersucht in der Ambulanz regelmässig Menschen mit Gedächtnisstörungen; als Verkehrsmediziner wird er immer dann eingeschaltet, wenn geklärt werden muss, ob ein Mensch seinen Führerschein behalten darf.

Demenz heisst nicht automatisch Fahrverbot

Die Diagnose Demenz bedeutet nicht automatisch, dass die betroffene Person nicht mehr Auto fahren kann. Bei einer leichten Demenz liege nicht grundsätzlich eine fehlende Fahreignung vor, heisst es in der ärztlichen Behandlungsleitlinie Demenzen, die auf mehreren wissenschaftlichen Studien basiert.

Im fortgeschrittenen Stadium sieht das anders aus. Wer unter einer ausgeprägten Demenz leide, sei nicht mehr in der Lage, den Anforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs gerecht zu werden, stellt die Bundesanstalt für Strassenwesen (BaST) klar.

Aus gutem Grund. Menschen mit einer Demenz haben Schwierigkeiten, sich zu orientieren, ihre räumliche Wahrnehmung und ihre Reaktionsfähigkeit sind eingeschränkt, sie können komplexe Situationen nicht mehr schnell genug erfassen – alles Fähigkeiten, die im Strassenverkehr wichtig sind.

Was ist Demenz?

  • Demenz ist ein Oberbegriff für verschiedene Erkrankungen des Gehirns. In der Folge lassen das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit nach. Die häufigste Ursache für eine Demenz ist die Alzheimer-Krankheit (60 bis 80 Prozent aller Demenzerkrankungen), gefolgt von der vaskulären Demenz (5 bis 10 Prozent).
  • In der Alltagssprache werden Demenz und Alzheimer häufig gleichgesetzt. Rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und höher sind an einer Demenz erkrankt, das entspricht etwa 1,8 Millionen Menschen. Die Alzheimer-Demenz ist nicht heilbar.

Verschiedene Studien belegen, dass bei einer Demenz das Unfallrisiko um das Zwei- bis Fünffache erhöht ist. Mitunter kommt es zu sehr gefährlichen Situationen.

Weihnachten 2023. Ein 87-jähriger Mann fährt 25 Kilometer auf der A1 in falscher Richtung, bevor ihn die Polizei mit einer Vollsperrung der Autobahn stoppen kann. Es stellt sich heraus, dass er an einer fortgeschrittenen Demenz leidet.

Viel häufiger sind aber leichte Unfälle: Die Betroffenen fahren beim Ausparken oder Wenden gegen andere Autos, sie biegen falsch ab oder übersehen die Vorfahrt anderer.

Auf die Selbsteinschätzung ist kein Verlass

Doch wann ist ein Mensch nur etwas tüdelig und wann so krank, dass er nicht mehr sicher Auto fahren kann?

Auf die Selbsteinschätzung der Fahrerinnen und Fahrer ist hier wenig Verlass. Eine Studie aus den USA zeigte, dass von 151 Autofahrenden, die in einer Gedächtnisambulanz untersucht wurden, nur knapp zehn Prozent Bedenken wegen der eigenen Fahrtauglichkeit hatten. Tatsächlich aber erhielten 38 Prozent ein Fahrverbot. Und lediglich drei Prozent durften ohne Auflagen weiter Auto fahren.

"Einige Frauen sind darauf angewiesen, von ihrem Partner gefahren zu werden, und haben daher einen verzerrten Blick."

Neurologe Thomas Günnewig

Auch Partnerinnen überschätzen häufig, wie gut ihr Mann noch Auto fahren kann. Im Alter sitzen Frauen deutlich seltener als Männer am Steuer. 48 Prozent aller Frauen ab 85 Jahren haben keinen Führerschein (mehr), bei den Männern sind es nur rund halb so viele.

"Einige Frauen sind darauf angewiesen, von ihrem Partner gefahren zu werden, und haben daher einen verzerrten Blick", sagt Günnewig. Vor allem auf dem Land, wo Busse und Bahnen nur selten fahren, spielt das Auto eine zentrale Rolle für die alltägliche Mobilität. Den Führerschein abgeben zu müssen, empfinden viele ältere Menschen als gravierenden Einschnitt, als Verlust der Selbstständigkeit. Kein Wunder also, dass Angehörige davor zurückschrecken, das Autofahren infrage zu stellen. Zu gross ist die Angst vor Konflikten.

Typische Warnzeichen für Demenz

Bisher gibt es keinen allgemeingültigen Test, der verlässlich anzeigt, ob eine demenzkranke Person noch Auto fahren kann. Doch bestimmte Auffälligkeiten gelten als Warnzeichen: wenn sich Menschen häufig auf bekannten Strecken verfahren. Wenn sie so langsam unterwegs sind, dass sich hinter ihnen eine lange Fahrzeugschlange bildet. Wenn sie plötzlich gegen Autos, Zäune oder Bäume fahren, während sie früher nie einen Kratzer am Auto hatten. Wenn sie langsam reagieren, Verkehrszeichen falsch deuten und zum Beispiel bei Grün an der Ampel anhalten. Oder wenn sie vergessen, den Sicherheitsgurt anzulegen.

Mediziner wie Thomas Günnewig greifen auf verschiedene Testverfahren zurück, um zu beurteilen, wie weit eine Demenzerkrankung fortgeschritten ist und ob die betroffene Person noch Auto fahren kann. Zum Screening wird häufig der Mini-Mental-Status-Test (MMST) herangezogen.

Hierbei stellen Ärztin oder Arzt im Rahmen eines Interviews lebenspraktische Fragen und Aufgaben. Sie erkundigt sich zum Beispiel nach der aktuellen Jahreszeit, bitten ihr Gegenüber, ein Wort rückwärts zu buchstabieren oder sich drei bestimmte Begriffe zu merken. Anhand der erreichten Punktzahl können sie einschätzen, wie weitreichend die kognitiven Einschränkungen sind – und damit auch wie die Gefahren im Strassenverkehr.

Laut der Konsensusempfehlung in der Schweiz, an der zahlreiche Institutionen beteiligt waren, liegt bei einem Punktwert zwischen 24 und 22 (von 30) ein mittleres Unfallrisiko vor, bei einem Wert unter 22 ein hohes. Die American Academy of Neurology spricht bei einem Wert von 24 und kleiner von einem erhöhten Risiko für unsicheres Fahren. "Meine eigene Grenze liegt bei 22. Wer diesen Wert oder niedriger hat, kann nicht mehr Auto fahren", sagt Günnewig.

Der Mini-Mental-Status-Test (MMST)

  • Mit dem MMST werden kognitive Störungen bei älteren Menschen erfasst. Der Test sollte immer von erfahrenen Fachpersonen vorgenommen werden. Er dauert ungefähr 15 Minuten. Mit verschiedenen Aufgaben werden Gedächtnis und Merkfähigkeit, Orientierung, Aufmerksamkeit, Sprache und Rechenfähigkeit geprüft.
  • Die maximale Punktzahl beträgt 30, ab 27 Punkten spricht man von leichten kognitiven Beeinträchtigungen, bei 24 bis 21 Punkten von einer leichten Demenz, bei weniger als 20 Punkten von mittelgradiger Demenz, bei unter zehn Punkten von einer schweren Demenz.

Der MMST allein reicht aber nicht aus, um die Fahrtauglichkeit festzustellen. Die ärztliche Behandlungsleitlinie Demenzen empfiehlt, immer mehrere Methoden zu kombinieren, um die Aussagekraft zu erhöhen. Zu den häufig angewandten Testverfahren gehören neben dem MMST der Trail-Making-Test, bei dem die Testperson Zahlen oder Buchstaben in der richtigen Reihenfolge verbinden muss, oder der Uhrentest, bei dem sie ein Ziffernblatt zeichnen und eine bestimmte Uhrzeit eintragen muss.

In Kanada haben Mediziner ein systematisches Verfahren zur Beurteilung der Fahrtauglichkeit erarbeitet. Ärzte sollen mit der betroffenen Person über Fahrfehler und (Beinah)-Unfälle in der Vergangenheit sprechen, Angehörige unter vier Augen nach ihren Bedenken fragen, verschiedene Testverfahren anwenden und klären, ob es bei Alltagsaktivitäten wie der Zubereitung von Mahlzeiten oder dem Ankleiden Probleme gibt. Ein Vorgehen, das Verkehrsmediziner Günnewig auch Ärzten in Deutschland empfiehlt, das hierzulande aber weder vorgeschrieben noch Standard ist.

Zeigt sich bei so einer umfassenden Diagnostik kein eindeutiges Bild, können Medizinerinnen und Mediziner eine praktische Fahrprobe nahelegen. Der ADAC beispielsweise bietet Fahr-Fitness-Checks an. Einige Fahrschulen haben inzwischen die sogenannte Rückmeldefahrt im Angebot, bei der geschulte Fahrlehrer und Fahrlehrerinnen nach einem bestimmten Verfahren die Fahrleistung beurteilen und praktische Tipps zur Verbesserung geben.

Die Ergebnisse aus den Tests, Untersuchungen und Fahrproben sind aber nur Momentaufnahmen. Wer heute noch relativ sicher Auto fahren kann, ist in ein paar Monaten möglicherweise nicht mehr dazu in der Lage. Die Untersuchungen müssen also in regelmässigen Abständen wiederholt werden. Die Behandlungsleitlinie Demenzen empfiehlt mindestens jährliche Checks.

Ältere Menschen im Strassenverkehr

  • Ältere Autofahrerinnen und Autofahrer sind keine generelle Risikogruppe im Strassenverkehr. Dass sie häufiger in der Unfallstatistik auftauchen als andere Personengruppen, hat mehrere Gründe. Einer davon: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unfall registriert wird, steigt mit der Schwere der Unfallfolgen. Ein Blechschaden ohne Verletzte landet oft nicht in der Statistik. Ein Unfall mit Verletzten oder Toten aber schon.
  • Ältere Autofahrende haben im Vergleich zu jüngeren selbst bei leichteren Unfällen ein deutlich höheres Risiko, schwer verletzt oder getötet zu werden. Daher würden Unfälle, an denen sie beteiligt sind, überproportional häufig erfasst, erklärt Professor Wolfgang Fastenmeier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP), der seit vielen Jahren zum Mobilitätsverhalten und Unfallrisiko älterer Verkehrsteilnehmenden forscht. Pflichtuntersuchungen auf Fahrtüchtigkeit ab einem gewissen Alter lehnt die DGVP ab. Sie würden die Verkehrssicherheit nicht verbessern, heisst es.

Fehlende Aufklärung ist ein Behandlungsfehler

Ärztinnen und Ärzte sind durch das Patientenrechtegesetz verpflichtet, frühzeitig über Krankheiten aufzuklären. Sie sollten schon im Rahmen der Erstdiagnostik über mögliche Einschränkungen und die damit einhergehenden Risiken beim Autofahren sprechen. Und sie müssen deutlich machen, dass eine Demenz immer zum Verlust der Fahreignung führen wird – bei dem einen früher, bei der anderen später. Klären sie nicht darüber auf, liegt ein Behandlungsfehler vor.

"Viele Patienten sagen mir: 'Ich fahre doch nur zum Supermarkt.' Doch so ein Supermarktparkplatz mit vielen aus- und einparkenden Autos und Fussgängern ist unübersichtlich, da kann eine Menge passieren."

Thomas Günnewig, Chefarzt der Geriatrie/Neurologie am Elisabeth Krankenhaus Recklinghausen

Thomas Günnewig spricht das Thema im Laufe seiner Beratungen offensiv an: Er erklärt den Patienten, dass sie mit ihrer Erkrankung nicht mehr die volle Kontrolle beim Autofahren haben und adäquat reagieren können, wenn andere Fehler machen. "Viele Patienten sagen mir: 'Ich fahre doch nur zum Supermarkt.' Doch so ein Supermarktparkplatz mit vielen aus- und einparkenden Autos und Fussgängern ist unübersichtlich, da kann eine Menge passieren."

Der Verkehrsmediziner versucht, an die Vernunft zu appellieren mit Sätzen sie "Sie waren immer verantwortungsbewusst, hören Sie jetzt mit dem Autofahren auf, bevor etwas passiert und jemand anderes verletzt wird." Er weist darauf hin, dass die Kfz-Versicherung bei einem Unfall nicht zahlt, wenn ein Arzt zuvor eine fehlende Fahrtauglichkeit festgestellt hat. Der Fahrer oder die Fahrerin muss den Schaden in so einem Fall aus eigener Tasche begleichen, was je nach Schwere auch zum Verlust von Haus und Vermögen führen kann.

Manchmal braucht es drastische Worte

Je nach Reaktion des Gegenübers wählt Günnewig auch drastische Worte: "Eine Uhr malen kann jedes Kind. Wenn Sie das nicht mehr schaffen, haben Sie die Fähigkeiten zum Autofahren verloren." Führt auch das nicht zur Einsicht, kündigt er Konsequenzen an: "Sollten Sie weiter Auto fahren, melde ich Sie der zuständigen Behörde!"

Empfehlungen der Redaktion

Ärzte dürfen die Schweigepflicht brechen, wenn es Hinweise auf eine konkrete Gefährdung anderer gibt. Thomas Günnewig musste in seiner Laufbahn als Verkehrsmediziner erst ein einziges Mal zu diesem Mittel greifen: "Wenn ich klare Worte spreche und an das Verantwortungsgefühl des Betroffenen appelliere, sind die Menschen in der Regel einsichtig."

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