Menschen mit ADHS fühlen sich von ihrem Umfeld häufig missverstanden. Das kann auch zu Spannungen in Partnerschaften führen. Wie man damit am besten umgeht, erklärt Psychotherapeutin Anke Glassmeyer – die selbst mit ADHS diagnostiziert ist.
Welche Verhaltensmuster können Menschen mit ADHS in einer Partnerschaft zeigen? Wirkt sich ADHS auch auf die Sexualität aus? Im Interview mit unserer Redaktion blickt Therapeutin Anke Glassmeyer auf typische Szenarien in Beziehungen mit neurodivergenten Menschen und empfiehlt: Eine gute Kommunikation innerhalb der Beziehung ist das A und O.
Welche typischen Verhaltensweisen können Menschen mit ADHS in einer Beziehung zeigen?
Anke Glassmeyer: Menschen mit ADHS wünschen sich in der Regel enge und stabile Beziehungen. Gleichzeitig erschwert das ADHS die Umsetzung. Denn Betroffene vergessen beispielsweise häufig Dinge, wie Termine oder Gesprächsinhalte, was vom Gegenüber oft als Unzuverlässigkeit wahrgenommen wird. In der Folge kann es zu Spannungen kommen.
Was ist ADHS?
- ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung, bei der das Gehirn Reize anders verarbeitet als bei den meisten Menschen. Betroffene haben oft Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit längere Zeit auf eine Sache zu richten, impulsives Verhalten zu kontrollieren und innere oder äussere Unruhe zu regulieren. Das zeigt sich zum Beispiel durch Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, unüberlegte Handlungen oder starke Rastlosigkeit.
Im Wesentlichen sprechen wir bei ADHS-Betroffenen von drei Hauptdiagnosekriterien: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Dabei zeigt sich vor allem die Impulsivität häufig auf sehr emotionale Weise, was wiederum eine Partnerschaft belasten kann.
Viele Menschen mit ADHS erleben zudem oft ein stark ausgeprägtes Gefühl der Ablehnung. Sie neigen also dazu, gewisse Verhaltensweisen des Gegenübers gegen sich zu interpretieren, was in der Folge Selbstzweifel verstärken und sich zu einer problematischen Dynamik im Zusammensein entwickeln kann – denn natürlich hat all das entsprechende Auswirkungen auf die Partnerin oder den Partner. Es gibt auch Extremsituationen, in denen die Beziehungsperson das Gefühl hat, für den von ADHS betroffenen Menschen verantwortlich zu sein oder Aufgaben übernehmen zu müssen.
Ist das aus Ihrer Sicht so?
Grundsätzlich nicht. Hier steht und fällt alles mit einer guten und klaren Kommunikation, damit die Beteiligten so gut wie möglich Selbstfürsorge betreiben können. Übrigens passiert es gar nicht mal selten, dass Menschen mit ADHS mit anderen neurodivergenten Personen in einer Beziehung sind: Neurodivergenzen ziehen sich oft an.
Was bedeutet neurodivergent?
- Neurodivergent bedeutet, dass das Gehirn eines Menschen anders funktioniert als das, was gesellschaftlich als "typisch" oder "normal" gilt (oft als neurotypisch bezeichnet).
- Menschen, die neurodivergent sind, können zum Beispiel ADHS, Autismus, Dyslexie, Tourette-Syndrom oder andere neurologische Besonderheiten haben.
So oder so: Ich empfehle immer, herauszufinden, wie der Person mit ADHS in bestimmten Situationen geholfen werden kann, in eine bessere Routine zu kommen. Dabei kann es hilfreich sein, die betroffene Person an Dinge oder Termine zu erinnern – es kann aber auch einen gegenteiligen Effekt mit sich bringen. Insofern ist eine gute Kommunikation innerhalb der Beziehung das A und O.
"Menschen mit ADHS fühlen sich häufig von ihrem Umfeld unverstanden."
Ebenso wichtig ist, zu verstehen, dass ADHS von den Personen nicht als Ausrede für gewisse Verhaltensweisen genutzt wird. Darin liegt meiner Meinung nach ein wichtiger Punkt: Menschen mit ADHS fühlen sich häufig von ihrem Umfeld unverstanden. In der Folge erklären, rechtfertigen und entschuldigen sie sich. Davon wiederum kann sich ein Gegenüber schnell genervt fühlen: Umso wichtiger ist es für Menschen mit ADHS, ihre Sorgen und Unsicherheiten zu kommunizieren – um dann innerhalb der Partnerschaft gemeinsam entsprechende Lösungen und Strategien zu entwickeln. Natürlich soll das nicht bedeuten, dass die Person ohne ADHS nonstop Rücksicht nehmen oder sich anpassen muss, im Gegenteil. Dennoch ist es für das Gegenüber elementar zu verstehen, was es bedeutet, ADHS zu haben.
Sie haben problematische Verhaltensweisen von Menschen mit ADHS skizziert – welche positiven Eigenschaften können sie in eine Beziehung bringen?
Da gibt es ganz viele. ADHS steht nicht nur für Chaos, Vergesslichkeit oder starke Emotionen. Vielmehr steht ADHS für eine tiefe Verbundenheit. Man kann sich voll und ganz auf Menschen mit ADHS verlassen. Hilfsbereitschaft, Kreativität oder Spontaneität spielen eine grosse Rolle, ebenso wie Ehrlichkeit, Begeisterungsfähigkeit und Authentizität. Darüber hinaus haben Menschen mit ADHS in der Regel ein sehr ausgeprägtes Gespür für Stimmungen und erkennen schnell, wenn es ihrem Gegenüber möglicherweise nicht gut geht. Häufig begegnen sie Problemen auch mit alternativen Lösungsansätzen und einer gewissen Outside-the-Box-Denkweise.
Wirken sich diese Faktoren auch auf Themen wie Sexualität aus?
Das ist gut möglich, ja. Natürlich gibt es Menschen mit ADHS, die viel Lust empfinden, Nähe suchen und auch mit Blick auf ihre Sexualität kreativ sind und sich voll und ganz ausleben. Es gibt aber auch ADHS-Betroffene, die ihr sexuelles Interesse eher verlieren und ihre Sexualität nicht so intensiv ausleben. Darüber hinaus können auch ADHS-Medikamente das Lustempfinden senken.
Sie selbst wurden im vergangenen Jahr auch mit ADHS diagnostiziert. Welchen Einfluss hat die Diagnose auf Ihr Leben?
Ich habe meine ADHS-Diagnose im Mai 2024 erhalten. Seitdem blicke ich auf viele Dinge ganz anders und erkenne Verhaltensmuster, die ich früher vermutlich übersehen hätte. Heute muss ich mich nur wenige Minuten mit einer Person unterhalten, um zu ahnen, dass die Person möglicherweise ADHS haben könnte. Trotzdem gibt es keine spezifischen Symptome, die ausschliesslich bei ADHS vorkommen. Bedeutet: Die meisten Menschen kennen typische ADHS-Symptome von sich selbst – umso grösser ist die Gefahr, ADHS-Symptome beim Gegenüber nicht ernst zu nehmen. Jeder Mensch kennt ADHS-Symptome, aber nicht jeder Mensch hat ADHS.
Ich fürchte, dass in Kliniken und Praxen zahlreiche Menschen falsch behandelt werden, weil das Bewusstsein für ADHS noch nicht vollends angekommen ist. In der Folge werden sie dann auf vermeintliche Diagnosen wie Depressionen oder Angststörungen behandelt und nicht auf ADHS getestet. Ich selbst komme aus einer mehr als 23-jährigen Essstörung: Wäre mein ADHS früher erkannt worden, wäre ich anders behandelt worden und hätte heute keine Folgeerkrankungen wie Osteoporose.
Wirkt Ihre Diagnose sich auf Ihre Arbeit als Therapeutin aus?
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Natürlich kann ich aufgrund meiner eigenen Diagnose Dinge durch die ADHS-Brille, aber auch ohne die ADHS-Brille betrachten. Sie ermöglicht mir andere Zugänge zu Gesprächen. Ich bin schon immer sehr offen mit meiner Essstörungsvergangenheit umgegangen: Letztlich hat mich diese Erkrankung zu meinem heutigen Beruf gebracht, weil ich schlechte Therapieerfahrungen machen musste. Umso grösser war mein Wunsch, es selbst als Therapeutin besser zu machen. Insofern ist es mir wichtig, Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe zu begegnen. Indem ich aber ADHS-Symptome als Betroffene nachempfinden und verstehen kann, fühlen sich Menschen mit ADHS oder solche, die vermuten, ADHS zu haben, durchaus verstanden und gesehen von mir.
Was raten Sie Menschen in einer Partnerschaft mit ADHS?
Ich halte es für immens wichtig, ADHS nicht als Modekrankheit oder mit Worten wie "Ach, das hat doch jetzt jeder" abzutun. Unsere Gesellschaft neigt dazu, aus Unwissenheit Dinge falsch einzuordnen – damit meine ich etwa den Irrglauben, ADHS-Medikamente würden abhängig machen. Dabei verhindert die Medikation vielmehr Abhängigkeiten, weil eben keine Selbstmedikation mit anderen Präparaten stattfindet. Natürlich sind ADHS-Betroffene für sich selbst verantwortlich. Dennoch braucht es in einer Beziehung das Verständnis füreinander – sowohl von der Person ohne ADHS als auch von der Person mit ADHS. Umso wichtiger ist es, Selbstfürsorge zu betreiben: Wenn wir nicht lernen, uns gut um uns selbst zu kümmern, können wir uns auch nicht in einer Partnerschaft um unseren Beziehungsmenschen kümmern. Selbstfürsorge ist nicht egoistisch: Vielmehr verbessert sie neurotypische als auch neurodivergente Beziehungen ungemein.
Über die Gesprächspartnerin
- Anke Glassmeyer ist eine Psychologische Psychotherapeutin, die seit 2019 eine eigene Praxis betreibt. Auf ihrem Instagram-Kanal "diepsychotherapeutin" klärt sie über psychische Erkrankungen auf und setzt sich für deren Entstigmatisierung ein. Darüber hinaus ist sie Autorin des Buches "Selbstfürsorge – dein Anker in turbulenten Zeiten".
Redaktioneller Hinweis
- Dieser Beitrag entstand auf Anregung unserer Leserinnen und Leser auf unser Frage-Antwort-Format "... und jetzt".
- In der Ausgabe ging es um folgende Frage: "ADHS in der Beziehung - und jetzt?".
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