Die restriktive Bewilligungspraxis bei Erwerbsminderungsrenten bringt chronisch Kranke in Not – wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz. Der Fall einer ME/CFS-Betroffenen aus Niedersachsen zeigt, wo die Probleme liegen.

Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Martin Rücker (RiffReporter) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

An jenem Tag, als Emilia Kühne von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erfuhr, dass sie jetzt wieder Vollzeit arbeiten gehen könne, lag sie in einem abgedunkelten Raum in ihrem Bett. Für die damals 39-Jährige war es ein weiterer Tag, an dem ihre Kraft nur für fünf Minuten reichte, gerade genug, um sich in einem Rollstuhl aufzurichten und etwas zu essen. Die restliche Zeit verbrachte sie liegend, so gut wie möglich von äusseren Reizen abgeschottet.

In einem Brief vom 17. Oktober 2024 teilte die DRV Braunschweig-Hannover Kühne mit, dass sie künftig keine Erwerbsminderungsrente mehr erhalten werde. "Nach unserer medizinischen Beurteilung können Sie wieder mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein“, hiess es.

"Ich habe da erst einmal angerufen und gefragt, ob es sich um eine Verwechslung handelt“, sagt Matthias Gehring, ein Freund, der sich um Kühnes Angelegenheiten kümmert.

Es war keine Verwechslung.

Und es ist auch kein Einzelfall. Kühnes Geschichte zeigt vielmehr, wie schwer es für Schwerkranke sein kann, Rentenansprüche durchzusetzen – und wie wenig sich die Entscheidungen der Rentenversicherung um medizinische Notwendigkeiten drehen.

Rente gab es stets befristet – und plötzlich gar nicht mehr

Emilia Kühnes Leidensweg begann 2019 mit einem verschleppten Infekt, von dem sich die Erzieherin nicht erholt. Sie leidet an Muskelschmerzen, Konzentrations- und Gleichgewichtsproblemen, die bleierne Erschöpfung ist ein Dauerzustand. Mehrere Ärzte diagnostizieren ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom).

Was ist ME/CFS?

  • Die Abkürzung ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Es handelt sich um eine schwere, chronische Multisystemerkrankung. Hauptsymptom ist eine ausgeprägte körperliche und geistige Erschöpfung. Typisch ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM): eine deutliche Verschlechterung des Zustands schon nach geringer körperlicher oder mentaler Belastung. Weitere Symptome können Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Schmerzen sowie Kreislauf- und Immunsystembeschwerden sein. Die Krankheit kann leicht bis schwer verlaufen – im schlimmsten Fall sind Betroffene dauerhaft bettlägerig. Die Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt und es gibt bislang keine Heilung. Die Behandlung kann also nur die Symptome bekämpfen.

2021 bescheinigte ein Arzt: Kühne sei "bis auf seltene Ausnahmen unfähig, das Haus zu verlassen". Im Februar 2022 – fast eineinhalb Jahre nach dem ersten Antrag – bestätigte die Deutsche Rentenversicherung Kühnes Rentenansprüche wegen voller Erwerbsminderung. Gewährt wurden sie zunächst bis September 2023, später bis Januar 2025, immer befristet.

Frank Vormbaum hält bereits das für rechtswidrig. Der Anwalt aus Werne im Münsterland vertritt Emilia Kühne sowie nach eigener Angabe mehrere hundert Mandantinnen und Mandanten mit ME/CFS. "Die Befristungen sind ein Drama“, sagt er. Sie zwingen Betroffene in eine Endlosschleife aus Anträgen, ärztlichen Gutachten und Unsicherheit. Für schwer Erkrankte ist das hochbelastend – und wer ans Haus gebunden ist, findet kaum einen fachkundigen Gutachter, der zu Hause vorbeikommt.

Probleme auch bei MS sowie Herz- und Lungenerkrankungen

Auch bei anderen chronischen Erkrankungen sorgen befristete Erwerbsminderungsrenten für Ärger. "Laufend" gehe man dagegen vor, berichtet Daniel Overdiek, Leiter der Rechtsabteilung des Sozialverbands VdK Bayern, der Menschen in sozialrechtlichen Fragen unterstützt. Derzeit seien häufig Menschen mit Post Covid und anderen postinfektiösen Syndromen betroffen, aber auch Menschen, die an Multipler Sklerose oder Herz- und Lungenerkrankungen leiden. Die Befristung, beobachtet Overdiek, werde regelmässig damit begründet, dass erst nach neun Jahren der Erwerbsminderung ein Dauerzustand anzunehmen sei, der zu einer unbefristeten Rente berechtige.

Doch der Jurist ist davon überzeugt, dass die Rentenversicherung die Rechtslage häufiger falsch auslege – denn diese stelle die Betroffenen eigentlich besser, als dies aus den Bescheiden der DRV hervorgehen würde.

Tatsächlich steht im sechsten Sozialgesetzbuch, Paragraph 102, dass nach neun Jahren von einer bleibenden Erwerbsminderung auszugehen ist. Allerdings ist dies nur der zweite Teil eines Satzes. Davor heisst es, dass Renten dann "unbefristet geleistet" werden, "wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann". In der Praxis würden die Bescheide bis auf "extreme Ausnahmesituationen" immer erst einmal befristet ausgestellt, sagt Overdiek. "In manchen Fällen ist das gerechtfertigt, aber nicht in allen. Zum Teil steht sogar in Gutachten, dass eine Besserung sehr unwahrscheinlich ist, und trotzdem wird die Rente befristet."

"Mangelnde Motivation"? Konnte das Gericht "nicht nachvollziehen"

Einige Male gaben Gerichte den Erkrankten bereits Recht. Im August 2023 etwa setzte ein Mann Mitte 40 eine unbefristete Erwerbsminderung vor dem Landessozialgericht Hamburg (Az L 3 R 74/21) durch. Wegen seiner Lungenerkrankung (COPD), einem als Berufskrankheit anerkannten Asthma bronchiale und komplexen psychischen Störungen sei der Mann dauerhaft erwerbsunfähig, so das Urteil. Zuvor hatte seine Rentenversicherung eine Reihe von ärztlichen Gutachten beiseite gewischt und war in Berufung gegangen, als das erstinstanzliche Urteil im Sinne des Mannes ausgefallen war. Diesem unterstellte sie "mangelnde Motivation"– die Landesrichter konnten dies laut ihrem Urteil "nicht nachvollziehen".

Ständig neue Begutachtungen zur Schwere ihrer Erkrankung über sich ergehen zu lassen, ist für die Patientinnen und Patienten belastend. Aber die Befristung ist auch aus einem weiteren Grund schwierig: Im Gegensatz zu einer unbefristeten Rente greift sie nicht sofort, sondern üblicherweise erst ab dem siebten Monat nach der Erkrankung. Für alle, die zuvor Kranken- oder Arbeitslosengeld beziehen, ist das kein Problem – wohl aber für jene, die diese Ansprüche nicht haben. "Manche haben eine Lücke von sechs Monaten", sagt VdK-Jurist Overdiek.

Wie folgenschwer die Entscheidungen sein können, zeigte sich bei Emilia Kühne, als Anfang dieses Jahres ein weiterer Brief auftauchte. Ihr Vermieter kündigte darin den Mietvertrag für ihre Wohnung im niedersächsischen Landkreis Schaumburg wegen Eigenbedarfs. Und als wäre es nicht schwer genug, vom Krankenbett aus eine neue, behindertengerechte Wohnung zu finden: Durch die befristete Rente konnte sie potenziellen Vermietern keinerlei finanzielle Sicherheit nachweisen. "Für eine neue Wohnung braucht sie einen Einkommensnachweis", sagt Matthias Gehring. "Das geht schon an die Existenz. Sie hat buchstäblich Angst, unter der Brücke zu landen."

Das Paralleluniversum der Deutschen Rentenversicherung

Bereits im Mai 2024 hatte Anwalt Vormbaum für Kühne Klage gegen die Befristung der Rente eingereicht. "Das Urteil könnte grundsätzliche Bedeutung haben", sagt er. Sein Argument ist die Wissenschaft: Die Mechanismen hinter ME/CFS sind Forschenden noch unklar, eine heilende Therapie haben sie noch nicht gefunden. Mehrere Ärztinnen und Ärzte haben Kühne schriftlich bescheinigt, dass keine Aussicht auf wesentliche Verbesserungen besteht. "Ich habe wenige Fälle, die so gut dokumentiert sind wie dieser", sagt Vormbaum.

Womöglich gehört zum Problem, dass sich die DRV in medizinischen Fragen in einem Paralleluniversum bewegt. Allen ärztlichen Leitlinien zum Trotz, die international von führenden Expertinnen und Experten für verschiedenste Krankheiten erarbeitet werden, leistet sich die DRV ein eigenes Leitliniensystem "für die sozialmedizinische Begutachtung". Darin steht nicht nur, wie ein Gutachten für Zweifelsfragen zu erstellen ist, sondern auch, was die Gutachterinnen und Gutachter von einer Erkrankung halten sollten. Das wäre wahrscheinlich kein Problem – würde die DRV in ihren Leitlinien nicht mitunter stark vom Stand der Wissenschaft abweichen: Post Covid erwähnt sie fünf Jahre nach den ersten Fällen noch immer mit keiner Silbe. ME/CFS zählt sie unter die "psychischen und Verhaltensstörungen".

Das greift eine ungute Tradition auf: Weil schon immer überwiegend Frauen an der komplexen Erkrankung leiden, wussten sich einige – männliche – Psychiater in den 1970ern nicht besser zu helfen, als die unverstandenen Symptome als "Hysterie" zu beschreiben. Wissenschaftlich ist dies längst überholt: ME/CFS ist seit Jahrzehnten als neurologische Erkrankung klassifiziert, organische Ursachen werden heute kaum mehr bestritten.

Eigentlich hatte die DRV Bund ihre Leitlinien bereits 2023 aktualisieren wollen – geschehen ist dies bis heute nicht. Weil man das bisherige System aus zahlreichen Leitlinien zu einzelnen medizinischen Fachgebieten in ein "Online-Portal zur Begutachtung" überführen möchte, habe man den Zeitaufwand rückblickend "zu optimistisch eingeschätzt“, erklärt ein Sprecher. Bis das Portal fertig ist, müssen die Gutachterinnen und Gutachter auf der Grundlage heillos veralteter Empfehlungen urteilen.

Ein spezielles Reha-Konzept für ME/CFS scheiterte

Das andere Thema, bei dem postinfektiös Erkrankte und Rentenversicherung regelmässig in Konflikt geraten, ist die Rehabilitation. Studien zeigen, dass eine Reha vielen Post-Covid-Patienten helfen kann – insbesondere bei ME/CFS-Betroffenen ist jedoch Vorsicht geboten. Auch Emilia Kühnes Zustand habe sich in einer DRV-eigenen Rehaklinik massiv verschlechtert: Das dort übliche Trainingsprogramm führte zu einer Überlastung wie sie ME/CFS-Betroffene unbedingt vermeiden sollten.

Obwohl bekannt ist, dass eine Reha manchen Betroffenen schaden kann, hob die DRV in ihrer Kommunikation recht einseitig auf den potenziellen Nutzen ab. Im Lichte jüngster Forschungsergebnisse wirkt dies besonders fragwürdig: In den vergangenen Jahren hatte die ME/CFS-Expertin der Charité, Carmen Scheibenbogen, zusammen mit der DRV Bund versucht, ein Rehakonzept speziell für ME/CFS-Betroffene zu entwickeln. Es wurde mit 300 Patienten in einer Klinik im sächsischen Kreischa in einer kontrollierten Studie getestet, doch das Konzept scheiterte.

Bei einem internationalen Symposium in Berlin sagte Scheibenbogen im Mai 2025: "Die Ergebnisse sind negativ." Der noch vorläufigen Auswertung zufolge hatte sich der Zustand vor allem bei schwerer Betroffenen durch die Reha verschlechtert. Die DRV Bund erklärte auf Anfrage, man werde die endgültigen Daten analysieren und bei Bedarf reagieren. Bisher jedoch seien die Forschungsergebnisse "noch vorläufig und können somit auch nicht handlungsleitend sein".

Ein Eilverfahren gibt es nicht

Emilia Kühne konzentriert sich unterdessen auf ihre Klage gegen den Bescheid der Rentenversicherung, sie erfülle die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente nicht mehr. Die Zeit drängt. Doch es gibt kein Eilverfahren für derartige sozialrechtliche Fragen – im Zweifel stehen Menschen über viele Monate ohne Geld oder mit erheblicher Unsicherheit da.

Dass die Rentenversicherung ihre Rente im vergangenen Oktober ganz strich, kam für Kühne wie aus dem Nichts. Ihr Zustand war seit Langem unverändert, Arztbriefe bestätigen das. Auf der für ME/CFS entwickelten "Bell-Skala", die das Mass der Einschränkungen beschreibt, erreicht sie von 100 Punkten keine 10. Das bedeutet: Bereits einfachste Pflegemassnahmen sind für sie kaum zu ertragen, ein Verlassen der Wohnung praktisch unmöglich.

Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie bescheinigte ihr – inzwischen unbefristet – eine 90-prozentige Schwerbehinderung. Die Medizinischen Dienste stufen Kühne seit Ende 2022 in den zweithöchsten Pflegegrad 4 ein, was ein Gutachten aus diesem Januar bestätigt. Sie sei zu 97 Prozent bettlägerig, heisst es darin, eine Verbesserung "nicht zu erwarten". Zuletzt hielt die Bundesagentur für Arbeit (BA) im April in schönstem Behördendeutsch fest: Es bestehe "Leistungsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt".

"Am Schreibtisch entschieden"

Nur die Rentenversicherung stufte Kühne als voll erwerbsfähig ein. Auf welcher Basis? Eine Sprecherin der DRV Braunschweig-Hannover gibt dazu auf Anfrage keine Antwort. Bei den Entscheidungen anderer Stellen gehe es um "andere Leistungsbereiche", sagt sie. Was plötzlich dafür sprach, eine bettlägerige Frau wieder als arbeitsfähig anzusehen, verrät sie nicht. "Das hat die Rentenversicherung einfach am Schreibtisch entschieden", empört sich Kühnes Anwalt Vormbaum. Es habe nicht einmal ein Gutachten gegeben.

"Dass man krank ist und nie zur Ruhe kommen kann, weil das alles einfach kein Ende nimmt – das ist eigentlich das Schlimmste."

Matthias Gehring, der seine an ME/CFS erkrankte Freundin Emilia Kühne unterstützt

Manchmal verändert erst der Druck von aussen die Dinge. Nach der redaktionellen Anfrage kommt es zu einem Telefonat zwischen der Pressesprecherin der DRV Braunschweig und Matthias Gehring, Kühnes Bekanntem. Er erwähnt darin das Ergebnis des BA-Gutachtens, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal schriftlich vorliegt. Nur einen Tag später revidiert die DRV ihren Bescheid und bewilligt Kühne erst einmal doch eine weitere Rente, befristet bis zum Ende des Jahres 2025.

Einen weiteren Tag später schreibt die Sprecherin, dass man den Hinweis auf das noch immer nicht schriftlich vorliegende BA-Gutachten "zum Anlass genommen" habe, "die Sach- und Rechtslage erneut zu überprüfen". Es folgte eine Prüfung in atemberaubendem Tempo: In nur einem Tag kam die DRV – ohne nähere Begründung – zu dem Ergebnis, dass Kühne nun doch nicht arbeiten kann, nicht einmal in einem Teilzeitjob. Zuvor hatte die DRV das Gegenteil behauptet – und weder nach Kühnes Widerspruch noch nach der Klage bemerkt, dass da etwas nicht stimmen konnte.

Ob Emilia Kühne auch im kommenden Jahr Rente erhält, muss nun das Sozialgericht entscheiden. Auf dem Weg zum Urteil stösst die chronisch Kranke auf ähnliches Unverständnis wie in ihrem bisherigen Kampf mit der Bürokratie: Inzwischen hat das Gericht "angeregt", dass sie sich in der Post-Covid-Sprechstunde in Hannover untersuchen lasse. Und als stünde dies nicht bereits in den Unterlagen, antwortete ihr Anwalt, dass seine Mandantin nicht transportfähig ist.

Ausgang: offen.

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Matthias Gehring, der seine Bekannte seit Jahren unterstützt, so gut er kann, sagt: "Dass man krank ist und nie zur Ruhe kommen kann, weil das alles einfach kein Ende nimmt – das ist eigentlich das Schlimmste."

Redaktioneller Hinweis

  • RiffReporter konnte die Unterlagen einsehen, auch die richtigen Namen von Kühne und Gehring sind bekannt.

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Verwendete Quellen

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