Trier - "Sie ist doch deine Mutter" - und doch: Eine belastete Mutterbeziehung kann uns ein Leben lang beeinflussen. Die Psychologin Stefanie Stahl gibt Tipps, wie man sich aus alten Konflikten lösen und die Verbindung zur Mutter - oder zu sich selbst - heilsam neu gestalten kann.
Frage: Frau Stahl, der Muttertag gilt als Tag der Liebe und Dankbarkeit - doch für viele ist er auch schwierig. Warum?
Stefanie Stahl: Weil der Muttertag mit hohen Erwartungen aufgeladen ist: Wir sollten dankbar, liebevoll und versöhnt sein. Aber was ist, wenn die Beziehung zur Mutter nicht so liebevoll war? Wenn es Verletzungen gab, emotionale Kälte oder gar psychische Grenzverletzungen? Dann fühlt sich der Muttertag wie ein stiller Zwang an - man soll etwas fühlen, was man vielleicht gar nicht empfinden kann.
Viele Menschen kämpfen mit einem inneren Loyalitätskonflikt: Einerseits die Sehnsucht nach Nähe, andererseits der Schmerz, dass einem was gefehlt hat. Das kann sehr belastend sein und darf auch benannt werden.
Warum sitzt die Prägung durch unsere Mutter so tief?
Unsere Mutter - oder die Person, die diese Rolle übernommen hat - ist unsere erste Bezugsperson. Von ihr hängt unser Überleben ab, und wir sind evolutionär darauf programmiert, diese Bindung zu suchen und aufrechtzuerhalten. In dieser frühen Lebensphase entwickeln wir ein inneres Arbeitsmodell von uns selbst und von Beziehungen: Bin ich liebenswert? Kann ich anderen vertrauen?
Diese Muster legen den Grundstein für unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Beziehungsgestaltung. Die Mutter-Kind-Dynamik prägt somit die tiefsten Schichten unseres emotionalen Erlebens - oft unbewusst und dauerhaft.

Was passiert, wenn diese Beziehung belastet war oder noch ist?
Dann schleppen wir emotionale Altlasten mit uns herum, die sich in verschiedenen Lebensbereichen zeigen. Viele Menschen geraten immer wieder in dieselben Beziehungskonflikte oder fühlen sich chronisch unsicher, wertlos oder überverantwortlich. Manche Menschen entwickeln ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung, während andere sich lieber emotional distanzieren, um sich vor Verletzungen zu schützen. Diese Muster wiederholen sich häufig auch in Freundschaften oder Liebesbeziehungen.
Eine belastete Mutterbeziehung kann zudem das Selbstbild negativ beeinflussen: Viele kämpfen mit Selbstzweifeln, Perfektionismus oder einem ständigen inneren Kritiker. Wichtig ist: Wir müssen in dieser alten Prägung nicht stecken bleiben.
Wie erkenne ich, wann Akzeptanz und Abstand heilsamer sind als der Wunsch nach Harmonie? Welche Rolle spielt Schuld?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Viele Menschen halten aus Pflichtgefühl und Schuld an schwierigen Beziehungen fest. "Sie ist halt meine Mutter", dieser Satz klingt wie ein Gesetz. Wenn wir aber immer wieder merken, dass der Versuch, Harmonie herzustellen, uns erschöpft, traurig oder wütend macht, ist das ein klares Signal.
Manchmal ist Abstand notwendig, um die eigene emotionale Gesundheit zu schützen. Schuldgefühle entstehen aus alten emotionalen Abhängigkeiten. Hier hilft es, den Unterschied zwischen falscher Schuld und tatsächlicher Verantwortung zu erkennen. Letzteres heisst: Ich bin verantwortlich für meinen inneren Frieden - und nicht dafür, die familiäre Harmonie um jeden Preis aufrechtzuerhalten.
Welche Schritte empfehlen Sie, um selbst innerlich Frieden zu schliessen?
Der erste Schritt ist, die eigene Geschichte ehrlich anzuschauen - ohne Beschönigung, aber auch ohne Selbstverurteilung. Dann geht es darum, die Verletzungen des inneren Kindes zu erkennen: Was hat mir gefehlt? Was habe ich geglaubt tun zu müssen, um geliebt zu werden? Parallel dazu stärken wir das Erwachsenen-Ich, das lernen darf, Grenzen zu setzen, für sich zu sorgen und sich selbst emotionale Sicherheit zu geben.
Frieden entsteht, wenn wir aufhören, die Vergangenheit ändern zu wollen - und stattdessen die Verantwortung für unser heutiges Erleben übernehmen. Vergebung kann ein Teil des Prozesses sein, muss aber nicht. Wenn wir unsere Mutter sofort wieder entschuldigen, dann tun wir das, was wir als Kinder schon immer getan haben: Wir übernehmen die Verantwortung dafür, dass unsere Beziehung zur Mutter geschützt wird.
Wie kann man das "innere Kind" in der Beziehung zur Mutter wahrnehmen und unterstützen?
Indem man achtsam wird für emotionale Reaktionen, die nicht zum Hier und Jetzt passen. Wenn mich ein Satz meiner Mutter völlig aus der Bahn wirft oder ich mich plötzlich wie ein hilfloses Kind fühle, ist oft das innere Kind am Werk. Dieses innere Kind trägt alte Verletzungen in sich - und genau deshalb braucht es heute ein liebevolles, starkes Erwachsenen-Ich, das sagt: Ich sehe dich. Du bist nicht allein. Ich kümmere mich um dich. Das ist der Schlüssel zur emotionalen Unabhängigkeit.
Ganz entscheidend ist, dass ich verstehe, dass meine Mutter Fehler gemacht hat und nicht ich, das Kind, die Schuld für das Verhalten meiner Mutter hatte. An dieser Stelle haben viele Menschen einen Loyalitätskonflikt, denn sie müssten sich eingestehen, dass es wirklich manchmal schwierig mit der Mutter war. Erst, wenn diese Distanzierung gelingt, kann man sich von alten, negativen Glaubenssätzen lösen.
Was möchten Sie Menschen mitgeben, die sich zum Muttertag eher belastet als verbunden fühlen?
Ich möchte diesen Menschen sagen: Du bist nicht falsch und du bist nicht allein mit diesen Gefühlen. Es ist völlig legitim, sich an diesem Tag ambivalent oder traurig zu fühlen. Der Muttertag muss nicht für alle ein Tag der Freude sein. Er kann stattdessen ein Anlass sein, sich selbst Anerkennung zu schenken – für den Weg, den man gegangen ist, und für die Stärke, die man entwickelt hat, trotz aller Herausforderungen.
Man darf sich ruhig mal auf die Schulter klopfen und sagen: Du hattest es nicht immer leicht - sei liebevoll mit dir selbst, das ist das schönste Geschenk, das du dir machen kannst.
Zur Person:
Stefanie Stahl ist Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin. Ihr Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden" soll dabei helfen, einen stabilen Selbstwert und gesunde Beziehungen zu entwickeln, es wurde über drei Millionen Mal verkauft. Sie hat eine Praxis in Trier. © Deutsche Presse-Agentur