Oft gibt es in Notsituationen viele Zeug:innen. Dennoch kommt es auch häufig vor, dass niemand den Betroffenen zu Hilfe kommt. Der Bystander-Effekt erklärt, warum das so ist.
Wenn auf offener Strasse ein Mensch in Not ist oder ein Unfall passiert, würden viele von uns instinktiv behaupten: "Natürlich würde ich in so einem Fall helfen". Die Psychologie und Berichterstattungen von solchen Fällen zeigt jedoch etwas anderes. Nämlich, dass oft gar nicht oder zu spät geholfen wird. Das Paradox, dass Menschen in Notsituationen tendenziell eher untätig daneben stehen als zu helfen, wenn viele Zeug:innen vor Ort sind, wird als "Bystander-Effekt" oder Zuschauereffekt bezeichnet. Das bedeutet, dass wir die Verantwortung in grossen Gruppen lieber auf die anderen verteilen, anstatt selbst zu handeln. Und am Ende tut dann niemand etwas. Warum so etwas passiert und was das mit der Klimakrise zu tun hat, erfährst du hier.
Was ist der Bystander-Effekt?
Der Begriff und die Definition des Bystander-Effekts wurde von den Sozialpsychologen John Darley und Bibb Latané im Jahr 1970 geprägt. Sie erforschten das Verhalten der Menschen in einem Kriminalfall von 1968: Die junge Frau Kitty Genovese wurde auf offener Strasse ermordet. Neben dem eigentlichen Verbrechen war das Schockierende in diesem Fall vor allem, dass zahlreiche Nachbar:innen die Hilfeschreie der Frau hörten. Dennoch griff niemand ein.
Die Sozialforscher ermittelten als Ursache dafür: Je mehr Menschen Zeug:innen einer Notsituation sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einzelne Personen helfen. Dabei spielen diese Faktoren die Hauptrolle:
- Verantwortungsdiffusion: Alle Beteiligten gehen davon aus, dass jemand anderes schon helfen wird und man selbst somit untätig bleiben kann.
- Pluralistische Ignoranz: Die Reaktionen anderer beeinflussen unser eigenes Verhalten. Wenn niemand in einem Notfall eingreift, nimmt man selbst unterbewusst an, dass die Situation nicht so dringend Hilfe erfordert.
- Uneindeutigkeit der Situation: Bei vielen Zeug:innen sind sich Einzelne oft nicht sicher, ob ihr Eingreifen überhaupt notwendig ist oder ob andere Helfer:innen bereits alles Mögliche getan haben.
- Bewertungsangst: Menschen haben Angst, in schwierigen Situationen einzugreifen und sich zu blamieren oder etwas falschzu machen. Zeug:innen von Unfällen haben zum Beispiel manchmal Angst, Erste Hilfe zu leisten und durch Fehler die Situation zu verschlimmern oder sich strafbar zu machen.
Der globale Bystander-Effekt in der Klimakrise
Auch bei derKlimakriese spielt der Bystander-Effekt eine Rolle. Nur in einem viel grösseren Ausmass. Denn hierbei ist die gesamte Menschheit beteiligt. Psycholog:innen sprechen deshalb auch vom globalen Bystander-Effekt, also dem Zuschauereffekt auf globaler Ebene. Dabei spielen dieselben Mechanismen und Faktoren eine Rolle wie in "kleineren" Notsituationen:
- Verantwortungsdiffusion: Der Klimawandel betrifft uns alle. Also haben wir alle Verantwortung, etwas dagegen zu tun. Paradoxerweise bewirkt dies aber genau das Gegenteil – es fühlt sich niemand zuständig, weil es so einfach ist, die Verantwortung auf andere Menschen oder Beteiligte abzuschieben. Staaten wälzen die Verantwortung auf die internationale Ebene ab, Unternehmen auf die Konsument:innen und Einzelpersonen auf die Politik.
- Pluralistische Ignoranz: Wenn sich niemand verantwortlich oder qualifiziert genug fühlt, um etwas zu tun und deshalb alle untätig bleiben, vermittelt das unserem Unterbewusstsein, dass die Lage eigentlich nicht so dringend ist und man ruhig noch etwas warten kann, bis man irgendwann aktiv wird.
- Bewertungsangst: Menschen, die sich für das Klima engagieren, werden häufig abgestempelt. Sie "überreagieren" oder "wollen anderen etwas aufdrängen" oder bekommen zu hören, dass sie "Panik machen". Zudem neigen Aussenstehende dazu, Engagement fürs Klima mit Extrembildern gleichzusetzen, die oft in den Medien zu sehen sind (zum Beispiel Fälle, in denen so bezeichnete "Klimakleber:innen" Infrastruktur blockieren). Viele Menschen würden gern etwas fürs Klima tun. Aus Angst, in der Gesellschaft anzuecken, bleiben viele dann aber doch passiv und ruhen sich zum Beispiel auf dem Gefühl der Verantwortungsdiffusion aus.
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Was können wir tun, um aktiv zu werden?
Der Bystander-Effekt ist ein mächtiges Phänomen der menschlichen Psyche. Es gibt jedoch Möglichkeiten, den Kreislauf der Passivität zu durchbrechen. Egal ob auf lokaler oder globaler Ebene. Auf die Klimakrise bezogen wären zum Beispiel folgende Schritte eine mögliche Hilfe:
- Verantwortung muss konkret festgelegt werden: Während es im Alltag sinnvoll sein kann, in Notsituationen konkret Einzelpersonen zum Helfen aufzufordern ("Sie, in der grünen Jacke, rufen Sie bitte den Notarzt!"), braucht es auch auf der globalen Ebene klare Zuständigkeiten. Zum Beispiel durch klare Klimagesetze. Diese allein reichen aber nicht aus. Wir müssen uns bewusst sein, dass Klimaziele nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in unseren privaten Haushalten durchgesetzt werden können. Jede:r einzelne muss sich die eigene Verantwortung eingestehen und bewusst ökologische Entscheidungen auf dieser Grundlage treffen, anstatt die Verantwortung ausschliesslich auf die Politik oder grosse Konzerne abzuschieben.
- Die Dringlichkeit der Situation muss deutlich gemacht werden: Menschen müssen realisieren, dass die Klimakrise real ist und dringend etwas getan werden muss. Denn Menschen helfen eher, wenn ihnen bewusst ist, dass es sich um einen akuten Notfall handelt, bei dem es katastrophal wäre, nur zuzusehen. Einzelne können sich zum Beispiel privat engagieren, indem sie das Problem emotional greifbar machen. Zum Beispiel, indem du Berichte von Hitzewellen, Waldbränden und anderen mit dem Klimawandel verbundenen Katastrophen verbreitest und auf die einzelnen Lebensgeschichten aufmerksam machst, die davon betroffen sind. Vermeide dabei Schuldzuweisungen. Sprich mit den Menschen auf Augenhöhe.
- Jemand muss Mut zum ersten Schritt haben: Egal, ob auf offener Strasse oder bei globalen Problemen wie dem Klimawandel – sobald eine Person den Anfang macht, steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, dass andere dem Beispiel folgen und ebenfalls aktiv werden. Die oder der erste Helfer:in senkt die Hemmschwelle für alle anderen. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass Engagement ansteckend ist. Beispielweise begann Greta Thunberg ganz allein mit einem Schulstreik eine Bewegung, die Menschen weltweit zum Klima-Aktivismus gebracht hat. Es braucht nur eine Person, um den Bystander-Effekt sozusagen umzudrehen und etwas Grosses zu bewegen. Wenn sich die Chance bietet: Sei diese Person und hab den Mut zum ersten Schritt. Zum Beispiel kannst du als erste:r in deiner Nachbarschaft damit beginnen, auf erneuerbare Energien umzusteigen oder die erste Person in deiner Freundesgruppe sein, die beim gemeinsamen Coffee To-go auf Mehrwegbecher setzt. Falls du eine grosse Reichweite auf Social Media hast, kann dein erster Schritt ganz schnell hunderte von Menschen dazu bewegen, etwas zu verändern. Wenn du gern etwas tun möchtest, aber nicht weisst, wo du anfangen sollst, findest du hier erste Inspiration: Klimaschutz: 10 einfache Tipps für jede:n
Klimaschutz in Deutschland bringt nichts? Warum das nicht stimmt © UTOPIA