Wie lässt sich eine Erfahrung festhalten, die bestürzend und unbeschreiblich ist? In ihren Kriegstagebüchern suchen die Autorinnen Lizzie Doron aus Israel und Yevgenia Belorusets aus der Ukraine darauf eine Antwort.
Am Morgen des 7. Oktobers 2023 um 6:29 Uhr schrillte der Sirenenalarm. Unvermittelt brach eine neue Realität über Lizzie Doron herein. Der brutale Überfall der Hamas auf Israel schockierte und raubte den Menschen das Gefühl, in diesem Land sicher zu sein. Auch Lizzie Doron reagierte perplex. "Es ist Krieg, Krieg, Krieg sage ich auch mir selbst immer wieder", wie um das Geschehen überhaupt fassbar zu machen.
1991 notierte der ungarische Autor und Überlebende des Holocaust Imre Kertesz: "Chronik als Selbstprüfung. Alles niederschreiben, so wie es kommt." Doron folgt diesem Rat und beginnt umgehend festzuhalten, wie sie und ihre Umgebung auf den Krieg reagieren. Sie protokolliert die Anrufe, mit denen im Familien- und Freundeskreis hektisch herumgefragt wird, wer umgekommen, wer in Sicherheit sei.
Erwachen im Krieg
Wie Doron erwachte Yevgenia Belorusets am 24. Februar 2022 mitten im Krieg. "Kiew wurde beschossen. Ein Krieg ist ausgebrochen", erfährt sie am Telefon. Dieses wird auch bei ihr zum heissen Draht auf der Suche nach Lebenszeichen von Freundinnen und Verwandten. Die Gefahr war auf einmal bedrohlich nahe gerückt.
Belorusets wehrt sich gegen das Verstummen. Die Stadt, die nachts im Dunkel versinkt und tagsüber wie ausgestorben wirkt, macht Angst und weckt zugleich ihren Trotz. Sie geht durch die leeren Strassen und spürt, dass jedes Haus, jeder Ort "eine neue Sprache, eine neue Erzählung über unsere gemeinsame Realität" ausstrahlt. Sie wird zur aufmerksamen Chronistin und dokumentiert diese Stimmung auch fotografisch.
Belorusets hat ihr "öffentliches Tagebuch", das 2022 unter dem Titel "Anfang des Krieges" als Buch erschien, für die Publikation auf Spiegel online verfasst. Sie schrieb dafür erstmals auf Deutsch und bekundete so auch sprachlich eine Distanz, mit der sie die Gefühle der Entfremdung protokollierte.

Niederschreiben, was geschieht
Demgegenüber hat Lizzie Doron beim Schreiben kein konkretes Lesepublikum im Blick. Ihr Tagebuch "Wir spielen Alltag" ist in erster Linie eine Chronik der persönlichen Empfindungen zwischen Trauer und Ohnmacht. Zuoberst steht die Sorge um die Tochter und die Enkelkinder, die am Tag des Überfalls über eine ungeschützte Strasse quer durch Israel nach Tel Aviv fahren.
Allmählich aber öffnet sich der tiefe Riss, der sich durch das Land und durch die Autorin selbst frisst. Wo steht sie, die linke Kritikerin der Netanjahu-Politik? Wie viel Mitgefühl für die Menschen in Gaza kann sie sich erlauben?
Die Sprache im Krieg darf keine Sprache des Kriegs sein. Darin sind sich Belorusets und Doron einig. In ihren Memoirs verteidigen sie die eigene Beklommenheit ebenso innig wie das Mitgefühl für die anderen. Und sie bestehen auf dem Recht, ein Ende dieses und aller Kriege zu fordern. Naivität sei "der beste Schutzbunker", notiert Belorusets, denn das Wichtigste ist, "nicht über alles, was wir erleben, in umgekehrter Perspektive zu denken".
Der persönliche Blick
Auf die Frage, warum es sich überhaupt lohne, wöchentlich zu demonstrieren, schreibt Doron: "Um ein Mensch zu sein." Darum geht es. Der Krieg darf nicht das letzte Wort behalten, auch wenn, wie sie einräumt, Worte "diese quälende Zeit nicht erfassen" können. Sie erlauben dennoch, die Unsicherheit festzuhalten und der "Zärtlichkeit des Lebens", so Belorusets, eine Sprache zu geben.
In dem emotionalen Auf und Ab, das die beiden Autorinnen offenherzig, berührend zum Ausdruck bringen, bewahren sie ihre Menschlichkeit, auch wenn dies mitunter schmerzvoll und anstrengend ist. Denn, so Belorusets, "man erholt sich in den bequemen Räumen des analytischen Denkens, wo es nicht mehr um konkrete Menschenleben geht".
Am Ende verlassen beide ihre Heimat, um ausserhalb der Kriegszone, in Berlin, neuen Atem zu schöpfen. Dieses Jahr sind Lizzie Doron und Yevgenia Belorusets Gast an den Solothurner Literaturtagen, um am (heutigen) Samstag miteinander über das Verstummen im Krieg zu sprechen.
Zu Lizzie Doron und Yevgenia Belorusets
Lizzie Doron ist 1953 in Tel Aviv als Tochter einer Holocaust-Überlebenden geboren. Sie studierte Soziologie, Kriminologie und Linguistik in Tel Aviv. 1998 erschien ihr erstes Buch "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" (Deutsch 2004). Ihr literarisches Werk, das in viele Sprachen übersetzt ist, dreht sich inständig um Fragen des Andenkens an die Shoa und der Verständigung mit den Palästinensern. Letzteres erregt in ihrer Heimat Israel immer wieder Anstoss, weswegen Bücher wie "Who the Fuck is Kafka" (2015) oder "Was wäre wenn" (2021) in Israel keinen Verlag fanden. 2019 weilte Lizzie Doron als Friedrich Dürrenmatt-Gastprofessorin in Bern.
Yevgenia Belorusets ist 1980 in Kiew geboren. Sie studierte Germanistik in Kiew und Wien und später Fotografie in Kiew. Ihre fotokünstlerischen Arbeiten und Projekte sind von internationaler Ausstrahlung. 2018 erschien ihr erstes Buch "Glückliche Fälle" (Deutsch 2019), in dem sie Prosa mit Fotografien verbindet. Das Buch beruht auf Reportagereisen, die Belorusets mehrfach in den Osten der Ukraine unternommen hat. Der Krieg, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führt, prägt auch ihre Bücher "Anfang des Krieges" (2022) und "Das moderne Leben der Tiere" (2024). Yevgenia Belorusets ist im Frühjahr 2025 "Atelier Ost"-Dozentin an der Universität Zürich.
- "Gegen das Verstummen. Schreiben im Krieg". Mit Lizzie Doron und Yevgenia Belorusets. Solothurner Literaturtage, Samstag, 31.Mai, 20.30 Uhr.
- Lizzie Doron: "Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober". dtv, München 2025. 148 Seiten. Gebunden ca. 33.90 Franken
- Yevgenia Belorusets: "Anfang des Krieges. Tagebücher aus Kyjiw." Matthes & Seitz, Berlin 2022. 190 Seiten. Gebunden ca. 34.90 Franken.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA