Ein Jahr nach den Unwettern im Bündner Südtal Misox hoffen noch immer einige Menschen auf eine Rückkehr in ihr Zuhause. Andere fanden eine neue Normalität.
Es war der 21. Juni 2024, als das Misox von heftigen Unwettern heimgesucht wurde. Drei Menschen starben in Sorte GR, eine Person wird noch immer vermisst. 20 Menschen verloren ihr Zuhause.
Ein Jahr später findet man in den Trümmern des von einem Erdrutsch zerstörten Dorfes allerlei: riesige Felsbrocken, zerstörte Häuser, zerbrochene Holzbalken. Zwischen kleineren Steinen liegt ein verzierter Löffel, daneben wachsen weisse Blumen.
Nicola Guidicetti und Moreno Monticelli, Präsident der zuständigen Gemeinde Lostallo und der Leiter der regionalen Koordinationsgruppe, machen sich ein Bild vor Ort in Sorte. "Wenn ich hierher zurückkomme, ist das immer sehr beeindruckend", sagt Monticelli. "Das Schlimmste sind die Opfer. Und dann ist da noch das Bedauern darüber, dass wir noch keine Lösung für die 20 Vertriebenen in Sorte finden konnten", fährt der Gemeindepräsident Guidicetti fort.
Der Neustart
Das Unwetter war ein Grossereignis, welches laut Experten nur alle 100 bis 300 Jahre vorkommt. Nicht nur Lostallo, auch Mesocco, Soazza, Cama, Grono und Roveredo waren davon betroffen. Die Autobahn A13 wurde durch die Wucht des Wassers auseinandergerissen. Die letzten Schätzungen sprechen von 82,5 Millionen Franken für die Behebung der Schäden.
"Es war ein äusserst anspruchsvolles Jahr, aber auch ein lohnendes, was die Arbeit betrifft", sagt Giudicetti. Ein Jahr später sind die meisten überschwemmten Bäche gesäubert, die Ufer und das Ackerland wiederhergestellt. Dank dieser Arbeiten konnten einige Menschen zur Normalität zurückkehren.
So auch Roberto Giudicetti, der seit dem 28. Mai sein von Ahornbäumen umgebenes Grotto südlich von Lostallo wieder eröffnete. "Die Kunden loben die geleistete Arbeit und ich bekomme mehrere Anrufe von Leuten, die hierher zum Essen kommen wollen", sagt er.

Vor dem 190 Jahre alten, von Generation zu Generation weitergegebenen Grotto liegt ein Hügel aus Erde und Steinen. Es ist das Material, das der Bach San Giorgio am Abend des Hochwassers ins Tal brachte. "Ein Anblick, an den man sich gewöhnt", fährt Giudicetti fort. Der Schutt, der am 21. Juni in das Restaurant und alle angrenzenden Grundstücke eingedrungen ist, hinterliess grosse Schäden an der Struktur. "Dank der Hilfe einer Gruppe von Freiwilligen und lokalen Bauunternehmern konnten wir alles aufräumen und wieder in Betrieb nehmen."
Der verlassene Weiler
Doch nicht überall kehrte der Alltag zurück. Sorte, der Weiler westlich des Flusses Moesa, liegt praktisch vollständig in der roten Zone. Seit einem Jahr lebt dort niemand mehr. Die Fensterläden der Häuser sind alle geschlossen, zwischen den Gärten und den Häusern wachsen Gras und Blumen. Zu den Evakuierten gehört Nadia Scarpetta, eine 58-jährige Hausfrau. Vor dreissig Jahren kam sie mit ihrer Familie in das Dorf südlich von Lostallo.
"Es war ein langes, hartes und intensives Jahr, mit vielen Problemen und vielen Unbekannten, vielen Sorgen um die Zukunft und das Haus", erzählt Nadia Scarpetta in ihrem Garten in Sorte. Zwei der Hausfassaden wurden beschädigt, die Garage und die Autos wurden von den Wassermassen und dem Schlamm mitgerissen.
Doch nach einem dunklen Jahr zeichnet sich ein Hoffnungsschimmer ab: Anfang Juni wurde die Familie Scarpetta von den Behörden informiert, dass sie "wahrscheinlich langfristig nach Hause zurückkehren können", erzählt Nadia Scarpetta. Doch eine Rückkehr nach Sorte hängt davon ab, dass das Dorf vor drohenden Naturereignissen sicher gemacht wird.
Zwei Varianten
Ein Ingenieurbüro arbeitet an einem Projekt: "Es handelt sich um einen Schutzwall, der eine mögliche Strömung am Talausgang auffangen und nach Süden leiten würde. Nach ersten Schätzungen würde er sieben Millionen Franken kosten", erklärt der Gemeindepräsident. Seiner Meinung nach ist dies die beste Variante, was die Kosten und den Schutz angeht. Hinzu käme allerdings die Lagerung des abgegangenen Materials, welches Zusatzkosten verursachen könnte.

Aber auch eine Umsiedlung steht im Raum. Eine Variante dazu musste Lostallo dem Bund unterbreiten. Dieser soll nun bewerten, was nachhaltiger ist. Guidicetti erhofft sich allerdings mehr Tempo. Seit einem Jahr wartet die Bevölkerung darauf, was mit ihrem Haus passiert: "In solchen Fällen brauchen wir eine Schnellspur, damit es nicht 18 Monate dauert, bis das Projekt angenommen wird, sondern sechs Monate."
Aber werden die Menschen in Zukunft wieder in Sorte wohnen können? Der Bürgermeister seufzt und nimmt sich ein paar Sekunden Zeit, bevor er antwortet: "Ich denke schon."
"Ich habe immer gesagt: Die Natur nimmt weg, aber sie gibt auch", sagt Nadia Scarpetta und zeigt auf die Hortensienbüsche vor ihrem Haus: "Sie erholen sich. Als ich sie sah, war das für mich ein klares Signal, nach Sorte zurückzukehren." © Keystone-SDA