Der 12. Juli 1875 ist ein historischer Tag für das Dorf Cavaione in der Gemeinde Brusio GR im Bündner Südtal Puschlav. Die damals 108 Einwohner wurden Schweizer, nach Jahren als Staatenlose. 150 Jahre später feiert die Bevölkerung dieses Ereignis.

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Die Geschichte von Antonio Plozza ist unglaublich. Der Mann wurde 1850 geboren und hat Cavaione, das an den Berg geklammerte Dorf auf der Westseite des Puschlavs, nie verlassen. Und doch hat er in seinem Leben vier Mal die Staatsangehörigkeit gewechselt: zuerst Österreicher, dann Untertan des Königreichs Sardinien, das später zum Königreich Italien wurde. 1875 erhielt er schliesslich die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Seine Geschichte ist eine von vielen, die in der Ausstellung der Historischen Gesellschaft Puschlav im ehemaligen Schulhaus von Cavaione erzählt wird. Mit Fotos und historischen Dokumenten wird an die 150 Jahre seit der Einbürgerung der Cavaioneser erinnert.

Cavaione und die europäischen Grenzen

Cavaione ist die letzte Gemeinde, die der Eidgenossenschaft beitrat. Im Laufe der Jahrhunderte war sie Zeugin der Dynamiken der europäischen Grenzen. Vom Jahr 1512, als der Staat der Drei Bünde das Veltlin annektierte, bis zur Konvention von Piattamala im Jahr 1863, als die Grenzen zwischen zwei neuen Nationalstaaten, Italien und der Schweiz, endgültig festgelegt wurden.

"Die Geschichte von Cavaione erinnert uns daran, dass der Staat, wie wir ihn heute kennen mit seinen Grenzen, eine moderne Erfindung ist, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete", erklärt Sacha Zala, Professor für Geschichte an der Universität Bern und gebürtiger Campascier aus Brusio.

Vorher herrschte auf dem Gebiet eine Überlagerung von verschiedenen Arten von Grenzen, von Herrschaftsbereichen, von mehreren Souveränen, von Nutzungsrechten und Privateigentum. "Mit dem modernen bürokratischen Staat entstand der Bedarf, eine totale Kontrolle über alle Grenzen zu haben, seien sie territorialer, religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Natur", fährt der Historiker fort.

Die Staatenlosen

Die Cavionesen lebten Jahrhunderte in völliger Selbständigkeit. Bis zu ihrer Einbürgerung im Jahr 1875 konnten sie als staatenlose Bürger bezeichnet werden. Und sie nutzten diese Situation auch aus. Die Unklarheit ihres Status erlaubte ihnen, sich manchmal der staatlichen Kontrolle zu entziehen, beispielsweise beim Militärdienst.

"Mit dem Schulbeginn im 19. Jahrhundert verstehen auch die Cavionesen, dass sie nicht mehr in absoluter Unabhängigkeit leben können", erklärt Zala. Um von staatlichen Dienstleistungen profitieren zu können, mussten sie klären, zu welchem Staat sie gehören.

Die Gemeinde Brusio war jedoch nicht bereit, die Kosten für die Integration der ärmsten aller Armen zu übernehmen. Mit einem Bundesdekret wurde ein Beihilfegesetz erlassen und es kam zum entscheidenden Schritt: der Einbürgerung der 108 Cavionesen.

"Sie waren schlussendlich einfach froh, dass sie endlich eine Autorität hatten, die ihnen gab, was sie verlangten", erklärt Zala. Das Gefühl, zu einem Staat zu gehören, sei zweitrangig gewesen.

Die Nachkommen

Natürlich gibt es heute keine Zeugen mehr aus dieser Zeit. Aber unter den verbliebenen acht Einwohnern von Cavaione sind noch die direkten Nachkommen jener Familien, die vor 150 Jahren Schweizer wurden.

Zu ihnen gehört Piera Plozza. "Ich bin wie ein Rotkehlchen", sagt die schlanke, kleine Frau in Anspielung auf den sesshaften Singvogel, während sie auf einer Wiese das Heu zusammenrecht. Sie ist in Cavaione geboren, aufgewachsen und nie weggegangen.

Am 12. Juni feiert sie. "Es ist schön, Schweizerin zu sein, aber mir lag auch an Italien immer viel, weil ich immer mit Italienern zusammengearbeitet habe", erinnert sich die 70-Jährige, die in einer Strickerei und später bei einer Obst- und Gemüsevertrieb in Campascio arbeitete.

Cavaione liegt direkt gegenüber dem Veltlin und den Orobie-Bergen. Diese Aussicht sieht Claudio Plozza jeden Tag von seinem Haus aus, wo einst die Poststelle war. Sein Vater Ezio Plozza holte dreimal pro Woche Briefe und Pakete in Campascio ab und brachte sie mit einem Esel nach Cavaione.

"Da es keinen Weg gab, musste er zu Fuss gehen", erzählt der 84-Jährige. Erst 1965 wurde die Serpentinenstrasse asphaltiert. Mit einer besseren Anbindung wurden die Menschen mobiler und Cavaione begann sich zu leeren.

Der letzte Junge

Zu den heutigen acht Einwohnern gehört auch Franco Balsarini, der letzte in Cavaione geborene Knabe, im Jahr 1963, und auch der letzte Gemeinderat dieser Fraktion. Zusammen mit einer Gruppe von Helfern bereitet er die Feierlichkeiten vor, die vor der seit 1971 geschlossenen Schule stattfinden werden.

"Mit der Feier wollen wir den Menschen zeigen, dass es Cavaione gibt und dass es sich lohnt, es einmal im Leben zu besuchen", sagt Balsarini, der scherzhaft als Gemeindepräsident von Cavaione bezeichnet wird.

Dieser Titel wurde ihm von Luca Plozza, dem Präsidenten der Stiftung Cavaione, verliehen. Das Hauptziel der Stiftung ist es, die Landschaft und ihre Terrassen zu erhalten. Im Gegensatz zu Piera, Claudio und Franco wohnt Luca Plozza in der Mesolcina. "Wer Wurzeln in Cavaione hat, kommt immer wieder hierher. Ich kann mich nicht davon loslösen. Es ist so schön und einzigartig", sagt er.  © Keystone-SDA