Wenige Tage nach der Germanwings-Katastrophe verriet der französische Staatsanwalt eine Fülle an Details über den Co-Piloten. Doch Experten kritisieren das Vorgehen und warnen vor voreiligen Schlüssen – Pilotenverbände sehen gar die Unabhängigkeit der Untersuchungen bedroht. Hätten die Ermittler anders handeln können?

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Als Brice Robin am Donnerstag erste Details zu den Ermittlungen um Germanwings-Flug 4U9525 enthüllt, wählt er unerwartet deutliche Worte. Vor allem ein Satz des Marseiller Staatsanwalts wird binnen Minuten zum Lauffeuer. "Es sieht so aus, als ob der Co-Pilot das Flugzeug vorsätzlich zum Absturz gebracht und so zerstört hat."

Ein bewusst eingeleiteter Sinkflug – das ist ein klares Urteil. Auch deshalb fragen sich seit der Pressekonferenz nicht wenige: Reichen die bisherigen Daten tatsächlich aus, um bereits so früh weitreichende Schlüsse zu ziehen? Der ehemalige Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) warnte am Donnerstag bei "Maybrit Illner": "Wenn ein Staatsanwalt etwas behauptet, dann heisst es noch lange nicht, dass es definitiv so ist." Und auch Luftfahrtjournalist Andreas Spaeth sagte in der Sendung: "Ich halte es für voreilig, jetzt schon von einem Suizid zu sprechen."

Es gehört zum Handbuch eines jeden Ermittlers, zunächst eine These aufzustellen und diese bei gefundenen Beweisen zu verfolgen. Doch im Fall des Absturzes entsteht schnell der Eindruck, dass mit den ersten Ergebnisse alle anderen Möglichkeiten in den Hintergrund rücken.

Experten: Ein vorläufiges Urteil "auf hölzernen Füssen"

"Die Schlussfolgerung, dass der Sinkflug bewusst herbeigeführt worden ist, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für absolut unzulässig", sagte Luftfahrtexperte Tim van Beveren dem MDR-Magazin "Brisant". Es sei eine reine Hypothese des Staatsanwalts, der selbst kein Pilot sei und der auch keine Flugexperten in seiner Kommission habe, kritisierte van Beveren und sieht ein vorläufiges Urteil "auf hölzernen Füssen."

In diese Kritik reihen sich auch viele Stimmen aus Pilotenkreisen ein. Sie fürchten, fortan unter Generalverdacht gestellt zu werden. Ilja Schulz, Präsident der Vereinigung Cockpit, meint, man dürfe keine voreiligen Schlüsse auf der Basis von unvollständigen Informationen ziehen. "Erst nach Auswertung aller Quellen werden wir wissen, was die Gründe für diesen tragischen Unfall gewesen sind."

Auch dass die französische Staatsanwaltschaft früh den vollständigen Namen des Co-Piloten sowie Wohnort und Alter nannte, stösst auf Protest. Der europäische Pilotenverband ECA moniert, dass die Ermittlungen nun nicht mehr unabhängig verlaufen könnten. "Die notwendige Führung der Sicherheitsermittler scheint von Strafverfolgungs-Erwägungen verdrängt worden zu sein", heisst es.

Der französische Pilotenverband SNPL kündigte am Freitag an, Anzeige zu erstatten: Weil schon vor der Pressekonferenz Infos an die "New York Times" durchgesickert waren, beklagt SNPL den Verrat von Berufsgeheimnissen. Der internationale Pilotenverband Ifalpa sprach von "Sensationalismus und Voyeurismus der übelsten Sorte" und folgerte: Teilergebnisse früh zu veröffentlichen, behindere die Untersuchungen.

Wie ist angesichts dieser scharfen Kritik das Vorgehen von Staatsanwalt Robin zu bewerten? Musste er wirklich so früh so viel preisgeben?

Was sollte wann veröffentlicht werden?

In Deutschland folgt ein Ermittlungsverfahren klaren Abläufen. Die Staatsanwaltschaft Bremen etwa schreibt dazu: "Dabei werden alle notwenigen und verfügbaren Beweise erhoben, auch solche, die den Beschuldigten entlasten können. Die Ermittlungen können bei komplizierten Sachverhalten langwierig sein."

Und weiter: "Die Staatsanwaltschaft entscheidet nach Abschluss der Ermittlungen über die Behandlung des Ermittlungsergebnisses." Im Fall der Germanwings-Maschine sind die Ermittlungen jedoch alles andere als abgeschlossen.

Wie weit sollten Auskünfte also gehen?

Der Hamburger Rechtsanwalt Christian-Alexander Neuling verdichtet das Problem in einem zeitlosen Beitrag zum Verhältnis von Justiz und Öffentlichkeit: Jeder Fall beschreitet einen schmalen Grat zwischen dem öffentlichen Bedürfnis auf Informationen und dem Schutz der Ermittlungen sowie aller Beteiligten. In diesem Fall wären das zum Beispiel die Angehörigen. Neuling sieht deshalb Behörden in der Pflicht, "ihre Medienauskünfte ausgewogen zu gestalten". Vor allem aber sollte vermieden werden, dass ein "definitiver Schuldspruch wahrgenommen wird".

Doch genau das ist im Fall des Absturzes von Germanwings-Flug 4U9525 passiert. Die Untersuchungen werden noch lange dauern – doch der Schuldspruch, das öffentliche Urteil ist längst gefällt. Niemand verpflichtete den französischen Staatsanwalt, sich kaum zwei Tage nach dem Unglück so ausführlich zu äussern. Selbst wenn sich die bisherigen Erkenntnisse mit dem Abschlussbericht bestätigen sollten.

Knickte der Staatsanwalt vor dem öffentlichen Druck ein?

Ohne Zweifel könnte der Druck auf die Ermittler in diesem Fall nicht grösser sein. Millionen Menschen weltweit schauen fassungslos auf den Absturz und hoffen auf Erklärungen. Aber sollte allein deshalb das Warten auf die zweite Blackbox und mögliche Einblicke dem öffentlichen Druck weichen? Zumal die rasche Verbreitung noch eine Kehrseite hat: Längst spriessen im Internet die Verschwörungstheorien. Nutzer kritisieren, sie würden gar nichts mehr glauben, bevor sie nicht die Original-Aufnahmen aus dem Cockpit gehört hätten. Was dabei einmal mehr auf der Strecke bleibt, ist das Vertrauen in Luftfahrt und Behörden.

Bei "Brisant" äusserte sich auch Gerhard Fahnenbruck, Vorstand der Stiftung Mayday. Die Stiftung unterstützt Luftfahrer und deren Angehörige; in den vergangenen Tagen betreute sie viele besorgte Piloten. Fahnenbruck sagte: "Wir sind in der Fliegerei einfach gewohnt, tatsächlich lange warten zu müssen auf Ergebnisse." Für Staatsanwalt Robin scheint diese Erfahrung wenig Gewicht zu haben.

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