Vieles, was die Medizin über den Menschen zu wissen glaubt, weiss sie eigentlich nur über junge, schlanke, weisse Männer. Eine neue Fachrichtung versucht, auch anderen Menschen besser gerecht zu werden.

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Wie sieht eine Hautkrankheit aus? Natürlich weiss das ein Dermatologe oder eine Dermatologin, das ist ja ihr Job. Aber wie sieht eine Hautkrankheit auf dunkler Haut aus? Darüber dürften die meisten Fachleute schon weniger wissen. Denn Fotos in Lehrbüchern und Fachzeitschriften zeigen meist Menschen mit heller Haut.

Eine US-amerikanische Studie von 2021 kam etwa zu dem Ergebnis, dass nur sechs Prozent der Fotos, die in den Vorjahren in drei dermatologischen Fachzeitschriften erschienen waren, einen der beiden dunkelsten von sechs Hauttönen zeigten – 67 Prozent zeigten einen der beiden hellsten.

Solche Ungleichgewichte können Folgen haben: Menschen mit dunkler Haut bekommen zwar selten maligne Melanome, die bösartigste Form von Hautkrebs. Aber wenn sie doch eines bekommen (so wie der Reggae-Musiker Bob Marley, der im Alter von 36 Jahren daran starb), dann wird es oft erst spät entdeckt und sie sterben häufiger daran als hellhäutige Menschen. Dass maligne Melanome auf schwarzer Haut oft spät entdeckt werden, habe, so heisst es in mehreren US-Studien zum Thema, wohl einerseits mit einem geringeren Bewusstsein für die Hautkrebsgefahr und der schlechteren finanziellen Lage der afroamerikanischen Bevölkerung zu tun, andererseits aber auch mit mangelndem Bewusstsein bei Ärztinnen und Ärzten.

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Das Geschlecht einer Person, ihr Alter, ihre Hautfarbe, ihr sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, Vorerkrankungen und Behinderungen: All das kann Auswirkungen darauf haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Krankheit auftritt, wie sie sich äussert, wie schnell sie erkannt wird und wie sie behandelt werden sollte. Aber die moderne medizinische Forschung, Lehre und Praxis hat das lange übersehen.

Relevanz des Geschlechts wurde erkannt – die anderer Faktoren noch nicht

Jahrzehntelang wurden medizinische Studien fast ausschliesslich an gesunden, jungen, weissen Männern durchgeführt – und die Ergebnisse dann als allgemeingültig betrachtet. Mit teils dramatischen Folgen für Menschen, die nicht jung, weiss und männlich waren.

In den 1990er-Jahren bemerkten US-Kardiologinnen, dass Herzinfarkte sich bei Frauen oft anders äussern und später erkannt werden als bei Männern und dass Frauen deshalb Infarkte seltener überleben. Das Fachgebiet der geschlechtsspezifischen Medizin – auch geschlechtersensible Medizin oder verkürzt Gendermedizin genannt – war geboren. In Deutschland entstand 2003 an der Berliner Charité ein erster Lehrstuhl für das Fachgebiet, 2021 in Bielefeld der zweite.

Noch immer kann man vielerorts in Deutschland ein ganzes Medizinstudium absolvieren, ohne je ernsthaft mit Geschlechteraspekten konfrontiert zu werden – aber viele Fachleute und Institutionen haben die Wichtigkeit des Themas erkannt. Andere Merkmale, in denen sich Menschen unterscheiden können, sind an den Medizinfakultäten allerdings noch wenig präsent.

Eine Vorreiterin im deutschsprachigen Raum ist hier die Universität Innsbruck. Sie machte 2018 aus ihrer vier Jahre zuvor gegründeten Professur für Gendermedizin eine Professur für Diversität in der Medizin. Seit September 2023 leitet die deutsche Public-Health-Expertin Sabine Ludwig das Institut.

"Ein gutes Gesundheitssystem muss die Bedarfe aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigen und diese adäquat versorgen."

Sabine Ludwig, Medizinische Universität Innsbruck

"Wir sehen in den letzten Jahren mehr und mehr, dass es für bestimmte Bevölkerungsgruppen grosse Barrieren in der Gesundheitsversorgung gibt", sagt Ludwig. Das betreffe unter anderem Frauen mit Migrationshintergrund, Menschen mit niedriger Bildung und geringem Einkommen sowie behinderte Menschen. "Viele gynäkologische Praxen haben zum Beispiel keinen geeigneten Stuhl für Frauen mit körperlichen Behinderungen", sagt Ludwig. Arztpraxen sind häufig nicht barrierefrei erreichbar, seriöse Gesundheitsinformationen für Menschen mit Lernschwierigkeiten oft zu komplex formuliert: "Aber ein gutes Gesundheitssystem muss die Bedarfe aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigen und diese adäquat versorgen."

Das ergebe sich schon aus den Gleichbehandlungsgesetzen und -geboten, die das Ziel haben, Benachteiligungen aufgrund der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Identität oder einer Behinderung zu verhindern oder zu beseitigen.

In den letzten Jahren habe sich beim Thema Diversität in der Medizin immerhin schon einiges getan, sagt Sabine Ludwig. Sie hat für ihre 2016 veröffentlichte Dissertation die Einführung von gendermedizinischen Inhalten ins Medizinstudium an der Berliner Charité wissenschaftlich begleitet. "Im Vergleich zu 2010, als der Modellstudiengang an der Charité startete, gibt es heute viel mehr Sensibilität für diese Themen und ein viel grösseres Interesse daran", sagt sie. Das betreffe Geschlechterunterschiede, aber auch vermehrt andere Aspekte von Diversität.

Expertin: Armut hat Einfluss auf Häufigkeit von Krebserkrankungen

Deutschlands erstes Institut für Diversitätsmedizin wurde im Juli 2023 an der Ruhr-Universität Bochum gegründet. Geleitet wird es von der Hämatologin und Onkologin Marie von Lilienfeld-Toal. Bis zur Covid-19-Pandemie, erzählt sie, sei Diversität für sie höchstens im Zusammenhang mit Chancengleichheit im Arbeitsleben ein Thema gewesen.

"In der Pandemie wurde mir dann klar, dass bei Erkrankungen Faktoren wie der sozioökonomische Status eine wahnsinnige Rolle spielen", erzählt sie. "In den USA war das schon ein bisschen präsenter, aber wir hier in Deutschland haben immer gedacht: Wir haben die gesetzliche Krankenversicherung, deswegen werden alle gut und gleich behandelt, und alles ist wunderbar."

Sie begann, sich mit dem Thema zu beschäftigen und fand immer mehr Beispiele dafür, dass die Medizin nicht allen kranken Menschen gleich gut hilft. "Viele Studien haben gezeigt, dass Armut einen negativen Einfluss sowohl auf die Häufigkeit von Krebs als auch auf den Verlauf von Krebserkrankungen hat", sagt von Lilienfeld-Toal. Eine 2023 in der Fachzeitschrift "Blood" erschienene Analyse der Daten von 592 US-amerikanischen Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie zeigte: Bei Kindern, die in extremer Armut lebten, kehrte der Krebs innerhalb von drei Jahren doppelt so oft zurück wie bei anderen Kindern.

"Die Forschenden haben wirklich supergründlich versucht, alle Faktoren zu berücksichtigen, die das Bild verzerren könnten", sagt von Lilienfeld-Toal. Dazu gehört etwa die Tatsache, dass arme Familien die sogenannte Erhaltungstherapie mit monatlichen Besuchen in einer onkologischen Klinik seltener dauerhaft durchhielten. Aber solche Faktoren konnten die höhere Rückfallquote bei in Armut lebenden Kindern nur zum Teil erklären.

Die Forschenden vermuten, dass auch die Faktoren Ernährung und Stress eine Rolle spielen: Gesunde Ernährung ist teurer als ungesunde, ungesunde Ernährung führt oft zu Übergewicht und Übergewicht ist ein bereits bekannter Risikofaktor für einen Rückfall bei akuter lymphatischer Leukämie. Ausserdem begünstigt Armut chronischen Stress und chronischer Stress wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus.

Auch das Körpergewicht kann den Erfolg einer Krebsbehandlung beeinflussen. Von bestimmten Immuntherapien gegen chronisch lymphatische Leukämie etwa profitieren laut einer 2019 in der Fachzeitschrift "Leukemia" erschienenen Studie normalgewichtige Frauen stärker als schwer übergewichtige, während bei Männern das Gewicht keinen Unterschied macht. Immuntherapien gegen schwarzen Hautkrebs hingegen, erläutert von Lilienfeld-Toal, wirkten bei übergewichtigen Menschen besser als bei anderen.

Wenn Studien nicht an denen durchgeführt werden, die tatsächlich erkranken

Damit Therapien möglichst vielen Betroffenen einer Krankheit helfen, ist es wichtig, sie an einer repräsentativen Gruppe von Menschen zu testen. Das ist aber oft nicht der Fall, wie zum Beispiel eine 2022 im "Journal of Clinical Oncology" veröffentlichte Studie zeigt. Ihr zufolge sind 27 Prozent aller Menschen, die in den USA an einem Multiplen Myelom erkranken, Afroamerikanerinnen oder Afroamerikaner – aber nicht einmal fünf Prozent der Menschen, an denen Medikamente gegen diesen Krebs des Knochenmarks klinisch getestet wurden.

"Eigentlich gehört es zum Wesen der Medizin, solche Kontexte zu beachten", sagt Marie von Lilienfeld-Toal. "Aber sie hat das Bewusstsein dafür ein bisschen verloren. Sie arbeitet an vielen Stellen schematisch und öfter, als es uns klar ist, passt das Schema nicht."

Von Lilienfeld-Toal wollte dazu beitragen, das zu ändern. Als sie nach einer neuen Stelle suchte, schlug sie vor, einen ihrer Schwerpunkte auf Diversitätsmedizin zu legen – auf kontextbewusste Medizin, wie sie das Fach auch gern nennt. Die Idee, gleich ein Institut zu gründen, sei dann von der Ruhr-Uni Bochum gekommen, sagt sie.

Zu den grössten Herausforderungen für das neue Institut gehören die sehr unterschiedlichen Vorkenntnisse der Menschen im Gesundheitssystem. "Wenn man sich auch nur ein bisschen mit sex und gender, also mit biologischem und sozialem Geschlecht, beschäftigt hat, ist diese Unterscheidung völlig selbstverständlich", sagt von Lilienfeld-Toal. "Aber für die meisten Menschen in der Medizin ist sie das noch nicht."

Dabei ist die Unterscheidung gerade in der Medizin wichtig. Wenn zum Beispiel Frauen an einer bestimmten Art von Krebs häufiger sterben als Männer, kann das an vielen Aspekten des Frauseins liegen. Fördern Östrogene das Tumorwachstum? Oder fördern es Chemikalien, mit denen man in frauendominierten Berufen verstärkt zu tun hat, etwa im Nagelstudio oder als Reinigungskraft? Oder werden Erkrankungen bei Frauen später diagnostiziert als bei Männern, weil ihre Symptome weniger ernst genommen werden? Weiss man, was hinter dem Geschlechterunterschied bei einer Krankheit steckt, kann man sie unabhängig vom Geschlecht gezielter behandeln oder gar verhindern.

Noch mehr als beim Geschlecht klaffe das Problembewusstsein bei anderen Diversitätsfaktoren auseinander, sagt Marie von Lilienfeld-Toal. "Und mit Begriffen wie Intersektionalität oder Neurodiversität, die zum Beispiel in der Soziologie genutzt werden, löst man in der Medizin oft nur Fragezeichen aus."

Hintergrundinformationen

  • Intersektionalität bezeichnet das Überschneiden und Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen – eine lesbische Frau beispielsweise macht andere Erfahrungen als eine heterosexuelle Frau oder ein schwuler Mann.
  • Mit Neurodiversität ist gemeint, dass Menschen Reize und Informationen unterschiedlich verarbeiten; dem Konzept zufolge sind etwa Autismus oder ADHS keine Krankheiten oder Behinderungen, sondern Varianten der menschlichen Vielfalt.

Praxistest für einen diversitätssensiblen Fragebogen

Derzeit arbeitet Marie von Lilienfeld-Toal an den ersten beiden Forschungsprojekten ihres Instituts. Im einen will sie herausfinden, welche Kategorien der Diversität in welchem Kontext medizinisch relevant sind und wie man sie am besten erfassen kann. Ein Team der Charité habe vor einiger Zeit einen diversitätssensiblen Fragebogen entwickelt, erzählt sie. Um diesen Fragebogen im klinischen Alltag zu testen, bekommen jetzt neue Krebspatientinnen und -patienten in manchen Kliniken eine auf Krebs angepasste Version davon vorgelegt. Sie enthält unter anderem zusätzliche Fragen zur sozioökonomischen Lage, "weil wir ja wissen, dass Armut Krebs erzeugt und Krebs arm macht", wie von Lilienfeld-Toal sagt. Für das Forschungsprojekt will ihr Team dann auswerten: Welche Fragen werden beantwortet, welche häufig ausgelassen? Wer beantwortet welche Fragen nicht? Wie muss der Fragebogen verändert werden, um möglichst aussagekräftige Daten zu liefern?

Das andere Forschungsprojekt befasst sich mit den Referenzbereichen, anhand derer Medizinerinnen und Mediziner etwas als "gesund" oder "behandlungsbedürftig" einordnen. Für den roten Blutfarbstoff Hämoglobin etwa, erklärt die Forscherin, gebe es für Männer und Frauen unterschiedliche Referenzwerte. Als normaler Wert gelte bei Männern alles ab 13 Gramm pro Deziliter, bei Frauen ab 12 Gramm pro Deziliter. "In der Tat haben Frauen im Schnitt niedrigere Werte", sagt von Lilienfeld-Toal. Aber das bedeute nicht zwangsläufig, dass Frauen wirklich weniger Hämoglobin brauchen.

Denn um den Blutfarbstoff zu bilden, benötigt der Körper Eisen – aber ungefähr jede dritte Frau habe einen latenten Eisenmangel, sagt von Lilienfeld-Toal. "Wenn Sie also einfach den Menschen, die auf der Strasse rumlaufen, Blut abnehmen, haben die Frauen im Schnitt natürlich niedrigere Hämoglobinwerte."

Studien hätten inzwischen gezeigt: "Wenn man Frauen mit latentem Eisenmangel Eisen gibt, geht ihr Hämoglobinwert hoch bis dahin, wo er bei Männern auch liegt, und es geht den Frauen besser. Gibt man ihnen dann weiterhin Eisen, wird es einfach ausgeschieden und es passiert gar nichts mehr." Für die Forscherin deutet das darauf hin, dass beim Hämoglobin dieselben Referenzwerte für alle gelten sollten, unabhängig vom Geschlecht. Ihr Team soll nun gesunden Menschen ohne Eisenmangel Blut abnehmen und auswerten, um diese Hypothese zu prüfen.

Gleichmachen, was gleich ist, und unterscheiden, wo es Unterschiede gibt

Schon der geschlechtsspezifischen Medizin wird manchmal vorgeworfen, zwanghaft Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu suchen oder hochzuspielen. Wenn die Medizin jetzt neben Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen auch noch den ethnischen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund jedes Menschen berücksichtigen soll: Wird es dann nicht schnell allzu kleinteilig?

Für Marie von Lilienfeld-Toal zeigt ihr Hämoglobin-Forschungsprojekt, dass das ein Missverständnis ist. "Es geht nicht darum, immer fitzelig zwischen kleinsten Gruppen zu differenzieren – sondern manchmal auch darum, falsche Differenzierungen zu beenden.

Ein anderes Beispiel dafür: die sogenannten race-based Korrekturfaktoren. "Bestimmte medizinische Geräte, die die Lungen- oder die Nierenfunktion messen, gehen bei ihren Berechnungen von unterschiedlichen Normbereichen für verschiedene Gruppen aus", erklärt von Lilienfeld-Toal. Aber auch bei der Erstellung dieser Referenzwerte seien oft relevante Zusammenhänge übersehen worden.

"Wenn ich zum Beispiel die Lungenfunktion eines Haufens weisser Akademiker messe und sie mit der von schwarzen Bergarbeitern vergleiche, dann kommen unterschiedliche Werte heraus", sagt von Lilienfeld-Toal. "Aber das liegt natürlich nicht daran, dass schwarze Menschen von Natur aus eine schlechtere Lungenfunktion haben, sondern am Arbeitsplatz der Personen, deren Lungen in der Studie getestet wurden."

In der Vergangenheit, sagt sie, wurden also in allen Richtungen Fehler gemacht: "An manchen Stellen wurde gleichgemacht, was nicht gleich ist, an anderen wurde unterschieden, wo kein Unterschied da ist. Zum Beispiel weil man Zusammenhänge übersehen hat. Uns geht es darum, zu gucken: Was ist in diesem konkreten Kontext korrekt?"

Verwendete Quellen

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