Grüne Smoothies, 10.000 Schritte am Tag und den Schlaftracker am Handgelenk: Gesundheit ist heute Pflichtprogramm. Warum uns der Trend zur Selbstoptimierung trotzdem nicht gesünder macht und warum Krankheit plötzlich als Anzeichen persönlichen Scheiterns gilt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Miriam Eichhorn-Zachariades sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Fitness-Tracker, Nahrungsergänzungsmittel, Biohacking: Der Drang zur Selbstoptimierung und der Wunsch nach einem langen, gesunden Leben hat Hochkonjunktur. Doch der Soziologe und Buchautor Friedrich Schorb warnt im Gespräch mit unserer Redaktion davor, aus dem globalen Wellness-Boom falsche Schlüsse zu ziehen: "Gesundheit ist in erster Linie ein riesiger Markt, der zwar expandiert, aber uns deswegen nicht unbedingt gesünder macht."

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Denn obwohl Menschen in Deutschland, den USA oder Grossbritannien immer mehr Geld für ihre Gesundheit ausgeben, stagniert beispielsweise die Lebenserwartung. Gleichzeitig steigt die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Diabetes-Diagnosen. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder stressbedingte Beschwerden sind auf dem Vormarsch.

Paradoxerweise führt die Fixierung auf Gesundheit offenbar längst nicht bei allen zum erwünschten Ziel: einer Verbesserung des Wohlbefindens und einer Verlängerung des Lebens. Einer der Gründe dafür: der sogenannte Healthismus. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Gesundheit vor allem ein Ergebnis des individuellen Verhaltens ist.

Wer seine Risikofaktoren kennt, sich richtig ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, sich genug bewegt, weder zu viel noch zu wenig schläft sowie Schadstoffe und Stressfaktoren vermeidet, bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben. Dabei ist wissenschaftlich längst bekannt, dass Erkrankungen nicht allein durch Lebensstilfaktoren entstehen.

Healthismus vs. gesunder Lebensstil

Natürlich ist es besser für die Gesundheit, nicht zu rauchen, auf Alkohol zu verzichten und sich ausgewogen zu ernähren. Doch was ein "gesunder Lebensstil" ist, kann sich individuell von Mensch zu Mensch unterscheiden, sagt Schorb. Für die eine bedeutet es, regelmässig Sport zu treiben, für den anderen, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Wieder andere fühlen sich dann am wohlsten, wenn sie mit ihrem Freundeskreis ins Stadion oder auf ein Konzert gehen.

"Ein gesunder Lebensstil bedeutet vor allem, mit dem eigenen Leben im Grossen und Ganzen zufrieden zu sein."

Friedrich Schorb, Soziologe

Entscheidend sei am Ende nicht die Einhaltung eines vorgegebenen Verhaltenskatalogs, sondern die persönliche Lebenszufriedenheit und ein Gefühl von Ausgeglichenheit, so der Soziologe. "Ein gesunder Lebensstil bedeutet vor allem, mit dem eigenen Leben im Grossen und Ganzen zufrieden zu sein", sagt Schorb. Doch das ist nicht für alle gleichermassen zu verwirklichen. Denn einen gesunden und selbstbestimmten Lebensstil muss man sich leisten können. Er ist ein Privileg.

Wer mehrere Jobs jongliert oder allein Care-Arbeit für Kinder oder pflegebedürftige Eltern leistet, denkt morgens nicht als Erstes an grüne Smoothies. Wer jeden Cent umdrehen muss oder in sozial benachteiligten Verhältnissen lebt, hat wenig Spielraum, sich selbst zu verwirklichen und das Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.

Gesundheit als soziale Währung

Es sind also nicht nur Apps, regelmässiges Yoga und genügend Avocados, die beeinflussen, wie gesund wir leben und wie alt wir werden. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Die Frage ist also weniger: Wie oft meditiere ich? Oder: Wie viele Schritte bin ich heute gegangen? Sondern: Fährt die Bahn heute pünktlich, damit ich rechtzeitig zur Arbeit komme? Bekommt mein Kind einen Platz in der Kita? Ist meine Wohnung bezahlbar, mein Arbeitsplatz sicher und reicht mein Einkommen für gesunde Lebensmittel und ab und zu eine Urlaubsreise? Und: Lebe ich in einer Gesellschaft, in der ich für meinen Körper verurteilt werden, weil er nicht dem Idealbild auf Werbeplakaten entspricht?

Diese Realität ignoriert der Healthismus. Er impliziert, dass wir alle die gleichen Möglichkeiten haben, uns um unsere Gesundheit zu kümmern. Zudem verlangt er eine messbare Dokumentation: "Das heisst: mein BMI, meine Muskelmasse, mein Cholesterin, mein Blutzucker, meine Zeiten beim Laufen, Fahrradfahren oder Schwimmen müssen immer weiter optimiert werden. Und: Ich muss besser sein als die anderen", erklärt Schorb. Gesundheit wird damit zu einer sozialen Währung in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Damit steigt auch der Druck.

Körperliche Fitness sei heute auch eng mit der gesellschaftlichen Stellung verknüpft: "Ein schönes Beispiel dafür sind die gesellschaftlichen Idealvorstellungen, die wir von Managern haben", so Schorb. Während das Klischee eines Firmenbosses früher ein dicklicher Mann mit Weinbrandglas und Zigarre war, ist es heute ein intervallfastender, Smoothie trinkender Marathonläufer. Ganz gemäss dem Motto: Wer führen will, muss auch sich selbst im Griff haben.

Abnehmspritze Ozempic als Symbol des Healthismus

Besonders hart trifft das Menschen, deren Körper nicht dem Idealbild entsprechen: "Sie werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, seltener eingestellt oder befördert und wenn sie privat versichert sind, müssen sie höhere Prämien zahlen", sagt Schorb.

Produkte wie die Abnehmspritze Ozempic sind typische Symbole dieser neuen Gesundheitskultur: Sie suggerieren, dass sich mit einem Piks ein komplexes Problem aus der Welt schaffen lässt: Übergewicht in einer Gesellschaft, in der durch eine mächtige Industrie und grossen Wohlstand ein ständiges Überangebot an Nahrungsmitteln voller Zucker, Fett und Salz herrscht.

Auch soziale Medien tragen zur Verbreitung des Healthismus bei. Influencerinnen und Influencer präsentieren sich dort als vermeintlich ganz normale Menschen: die sympathische Nachbarin, der sportliche Kumpel von nebenan. Die Botschaft dahinter: Wenn sie es schaffen, gesund zu leben, jeden Tag clean zu essen und morgens um 5 Uhr im Fitnessstudio zu trainieren, dann kannst Du das auch. "Was man dabei vergisst: Es ist ihr Beruf, sich selbst als Fitnessguru oder Ernährungsexpertin zu inszenieren und meist dann auch noch entsprechende Produkte oder Ratgeber zu verkaufen" so Schorb.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie weit die Ideologie des Healthismus heute reicht, liefert der US-Tech-Unternehmer und Biohacker Bryan Johnson. Mit einem minutengenau durchgetakteten Tagesablauf, über hundert Nahrungsergänzungsmitteln am Tag, einer strengen Diät und einer nicht endenden Reihe an medizinischen Selbstversuchen versucht er, den Alterungsprozess seines Körpers aufzuhalten. Aber auch das muss man sich leisten können - und auch wolle. Sein Lifestyle kostet den Biohacker stattliche zwei Millionen Dollar pro Jahr.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Friedrich Schorb ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind unter anderem Gewichtsdiskriminierung sowie Gesundheit und Soziologie der Gesundheit. Er ist der Autor mehrerer Bücher, unter anderem "Fat Studies in Deutschland. Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung" und zuletzt "Healthismus. Gesundheit als gesellschaftliche Obsession".

Verwendete Quellen