Amy Lynn Bradley war 23 Jahre alt, als sie auf einer Kreuzfahrt in der Karibik spurlos verschwand. Bis heute gibt es keine Gewissheit, was 1998 mit der jungen US-Amerikanerin geschah. Eine neue "Netflix"-Doku rollt den Fall nun auf, zu dem es mehrere Theorien gibt.

Amy Lynn Bradley hatte gerade ihr Studium abgeschlossen, der erste Job wartete bereits auf die 23-Jährige US-Amerikanerin aus West Virginia. Bevor sie eigene Wege ging, gönnte sich die Familie noch einen gemeinsamen Urlaub: Eine Kreuzfahrt von Puerto Rico zu den niederländischen Antillen – eine Woche inmitten azurblauer See. Doch mit der Reise begann im März 1998 für die Familie ein Albtraum, der bis heute andauert. Am dritten Tag auf der "Rhapsody of the Seas" verschwand Amy spurlos.

Was passierte am frühen Morgen des 24. März 1998?

Das Kreuzfahrtschiff mit seinen rund 2.000 Passagieren hatte gerade Aruba verlassen und steuerte auf die niederländische Insel Curaçao zu. An Deck fand an diesem Abend eine grosse Gala statt, an der auch die Bradleys teilnahmen. Gegen 3:30 Uhr kehrte Amy als letzte der Familie in die gemeinsame Kabine zurück. Während alle anderen zu Bett gingen, blieb sie auf dem kleinen Balkon sitzen. Dort sah sie ihr Vater noch gegen halb sechs Uhr morgens auf dem Liegestuhl. Als er 20 Minuten später erneut aufwachte, war sie verschwunden.

Schnell brach bei der Familie Sorge aus. Dass Amy einfach so verschwand, passte nicht zu ihr. Zunächst suchten die Bradleys auf eigene Faust nach ihrer Tochter - erfolglos. Während die rund 2.000 Passagiere in Curaçao bereits an Land gingen, stellte das Personal die zehn Decks des rund 300 Meter langen Schiffes auf den Kopf. Doch von Amy fehlte weiter jede Spur.

Amy blieb verschwunden. Bis heute ist unklar, was auf der "Rhapsody of the Seas" geschah. Doch es gibt mehrere Theorien zu ihrem Verschwinden.

Ging Amy Bradley über Bord?

Die Crew vermutete schnell, dass Amy über Bord gegangen sein musste. Gesprungen – freiwillig oder versehentlich. Jedes Jahr gehen laut "schiffsradar.org" durchschnittlich rund 267 Menschen über Bord, davon etwa 25 auf Kreuzfahrtschiffen. In rund 30 Prozent der Fälle handelt es sich um Suizide, über 50 Prozent sind Unfälle.

Doch es gibt keine Hinweise, dass sich Amy das Leben nehmen wollte. Sie hatte gerade einen Job angenommen und eine eigene Wohnung gefunden. Kurz vor der Abreise adoptierte sie eine englische Bulldogge namens Daisy. Freunde und Familie sagen: Amy liebte das Leben. Es lief gut für sie, sie freute sich auf ihren neuen Lebensabschnitt. Auch das FBI glaubt nicht an die Suizid-Theorie. Aber könnte jemand "nachgeholfen" haben?

Zwei Passagierinnen wollen Amy zwischen fünf und sechs Uhr morgens noch an Deck gesehen haben. Sie fuhr demnach in einem gläsernen Aufzug zur Disco. Der Club war zu dieser Zeit längst geschlossen, doch sie fuhr nicht alleine: Der Musiker Allister D. – auch bekannt als "Yellow" - begleitete sie. Er gehörte zur Band an Bord der "Rhapsody of the Seas" und hatte auf der Gala mit Amy geflirtet. Das belegen Video-Aufnahmen vom Abend. Laut den beiden Zeuginnen lief "Yellow" kurz darauf alleine über das Deck. War es zum Streit zwischen den beiden gekommen – und stürzte Amy dabei über Bord?

Es gibt grosse Zweifel daran, dass Amy tatsächlich ins Meer stürzte. Wäre sie über Bord gegangen, hätte sie an der Küste von Curaçao angespült werden müssen - davon ist der damalige Polizeichef von Curaçao, Adtzere "John" Mentar, überzeugt.

Die Strömung vor Curaçao sei sehr stark und das Schiff befand sich zum Zeitpunkt ihres Verschwindens bereits sehr nah an der Küste. Mit Hubschraubern suchten sie das Gebiet ab – doch sie fanden keine Spur von Amy. "Ich sage Ihnen: Wäre sie vom Schiff gefallen, hätten wir sie gefunden", sagt Adtzere "John" Mentar in der "Netflix"-Doku "Amy Bradley Is Missing".

Ging Amy Lynn Bradley freiwillig an Land?

Die 23-Jährige könnte auch aus freien Stücken in Curaçao an Land gegangen sein. Trotz Bitten der Familie stoppte die Crew den Landgang nicht. Amy könnte das Schiff gemeinsam mit 2.000 anderen Passagieren verlassen haben – unbehelligt in einem Pulk von Menschen.

Spekuliert wurde, dass sie an Land Zigaretten oder Drogen kaufen wollte. "Bier und Light-Zigaretten waren das Einzige, was sie konsumierte", sagt ihr Bruder Brad in der "Netflix"-Doku. Doch Zigaretten hätte sie auch an Bord kaufen können. Ihre Familie beschreibt Amy zudem als äusserst zuverlässig – wenn sie länger als 15 Minuten weggegangen sei, habe sie immer einen Zettel hinterlassen.

Dass Amy das Schiff alleine verliess, dafür spricht jedoch eine Zeugenaussage. Ein Taxifahrer will Amy auf Curaçao gesehen haben. Sie habe ihn nach dem Weg zur nächsten Telefonzelle gefragt. Dies war der erste Hinweis darauf, dass Amy noch am Leben ist. Ob sie tatsächlich jemanden anrief, bleibt unklar – ebenso, warum sie danach nicht zu ihrer Familie zurückkehrte.

Es kommt vor, dass Menschen ihr altes Leben hinter sich lassen. Amy Bradley hatte ihr Leben aber erst noch vor sich: Ein neuer Job, eine neue Wohnung, keine Schulden. Wurde ihr das alles auf einmal zu viel? Doch wieso meldete sie sich in den 27 Jahren seit ihrem Verschwinden kein einziges Mal bei ihrer Familie, zu der sie offenbar ein enges Verhältnis hatte?

Wurde Amy Lynn Bradley entführt?

Vielleicht, weil Amy nicht freiwillig von Bord ging – oder in Curaçao an die falschen Leute geriet. Amys Familie ist überzeugt, dass ihre Tochter entführt wurde.

Curaçao gilt als wichtiger Umschlagplatz für Drogen und Menschenhandel. Laut U.S. Department of the State steht die Insel, die zu den Niederlanden gehört, auf der Tier-2-Watchlist. Das bedeutet: Die Regierung unternimmt Schritte gegen Menschenhandel, erfüllt aber noch nicht die Mindeststandards.

Von Zwangsprostitution sind vor allem Frauen und Mädchen aus Lateinamerika betroffen. Könnte auch eine US-amerikanische Touristin Opfer geworden sein? In den Jahren nach Amys Verschwinden gab es immer wieder Hinweise, die in diese Richtung deuten.

Amy Lynn Bradley wurde mehrfach gesichtet

August 1998: Nach einem Tauchgang auf Curaçao kamen auf den Urlauber David Carmichael drei Personen zu: zwei Männer und eine junge Frau. Er hatte den Eindruck, dass ihn die Frau ansprechen wollte – doch einer ihrer Begleiter ging dazwischen. Der Blick des Mannes blieb ihm im Gedächtnis.

Später sah er einen Bericht über die Vermisste Amy Bradley – und erkannte sie sofort wieder. Wie Amy hatte auch die Frau ein Tattoo von Taz, dem tasmanischen Teufel aus den Looney Toons. Carmichael wandte sich daraufhin an das FBI. Einen der ominösen Begleiter identifizierte er als den Musiker "Yellow", der schon direkt nach Amys Verschwinden in den Fokus der Ermittler geriet. Das FBI verhörte ihn und unterzog ihn einem Lügendetektor-Test – doch nachgewiesen werden konnte ihm nichts.

Januar 1999: Der Navy-Mitarbeiter Bill Hefner besuchte abends heimlich eine zwielichtige Bar auf Curaçao. Dort traf er auf bewaffnete Männer und Prostituierte. Unter ihnen: eine weisse Frau. "Sie hat gesagt: ‚Sie halten mich gegen meinen Willen fest, ich brauche Hilfe'", erzählt Hefner in der "Netflix"-Doku. Mit unverkennbarem Südstaatenakzent habe sie ihm auch ihren Namen genannt: Amy Bradley. Hefner schenkte ihr keinen Glauben – bis er zwei Jahre später ein Vermissten-Bild von Amy Bradley sah. Das FBI hält seine Aussage für glaubwürdig.

März 2005: Die Urlauberin Judy Maurer hörte in einer Damentoilette auf Barbados, wie Männer mit einer jungen Frau sprachen. Die Rede war von einem Deal, der um 11 Uhr stattfinden sollte. "Du bist besser bereit", sollen sie zu der Frau gesagt haben. Maurer sprach die junge Frau am Waschbecken des Toilettenraums an. Ihr Name sei Amy, habe sie gesagt, sie käme aus West Virginia. Viel mehr gab die verzweifelt wirkende Frau nicht preis. Später sah Maurer die junge Frau wieder – als vermisste Person auf einem Foto in der "Dr. Phil Show". Sie ist sich sicher, dass es sich um die Vermisste Amy handelte.

Verstörende Fotos und digitale Spuren

Zeugenaussagen sind allerdings nicht immer zuverlässig – vor allem, wenn die Beobachtungen bereits Jahre zurückliegen. Erinnerungen verblassen, vermischen sich mit späteren Informationen - und können dadurch unbewusst verfälscht werden. Doch im Jahr 2005 erreichten die Familie Bradley verstörende Bilder, die Hinweise in eine ähnliche Richtung liefern.

Eine anonyme Quelle sendete ihnen Fotos, die offenbar von einer Homepage für Sex-Dates stammen. Sie zeigen eine junge Frau in aufreizenden Posen. Sie ist stark geschminkt, ihr Haar deutlich länger als das von Amy – doch seit ihrem Verschwinden sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Ein Forensiker des FBI untersuchte die Fotos auf bestimmte Gesichtsmerkmale. Er glaubt, bei der Frau auf den Bildern könnte es sich tatsächlich um Amy Bradley handeln.

All diese Hinweise lassen die Familie Bradley daran glauben, dass ihre Tochter Amy noch lebt. Als weiteren Beweis deuten sie die Beobachtung, dass es zu bestimmten Jahrestagen und Geburtstagen auffällig viele Zugriffe auf ihrer Homepage amybradleyismissing.com von IP-Adressen aus Bridgetown, Barbados, gibt.

Ist es Amy, die sich aus Sehnsucht nach ihrer Familie dort minutenlang Bilder anschaut? Doch wenn Amy tatsächlich Zugang zum Internet haben sollte: Wieso meldet sie sich dann nicht bei ihrer Familie?

Warum nahm Amy Bradley keinen Kontakt zur Familie auf?

Die Urlauberin Judy Maurer, die Amy 2005 in einer Damentoilette auf Curaçao gesehen haben will, hörte bei dem Gespräch einen Satz, der eine Erklärung dafür liefern könnte: Die verzweifelt wirkende Frau habe die Männer gefragt, ob sie "die Kinder" später sehen könne. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Amy Bradley in den Jahren nach ihrem Verschwinden Mutter geworden ist. Wagt sie aus Sorge um ihre Kinder nicht, Kontakt aufzunehmen?

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Doch auch das ist nur eine Theorie. Bis heute liefert der Fall mehr Fragen als Antworten. Heute wäre Amy Bradley laut "The Charley Project" 51 Jahre alt – und für ihre Familie steht fest, dass sie noch irgendwo da draussen ist. "So lange wir im Ungewissen sind, können wir weiter hoffen", sagt ihr Bruder Brad in der "Netflix"-Doku. "Mir ist das tatsächlich lieber so. Besser, als eine endgültige Antwort."

Informationen

  • Falls Sie Informationen zum Verbleib von Amy Lynn Bradley haben, wenden Sie sich an Ihre örtliche Polizeistelle. Über diese Seite können Sie ausserdem anonyme Hinweise an das FBI senden.

Verwendete Quellen