Angst vor der eigenen Hausapotheke: In den 1980er-Jahren sorgt eine Mordserie in den USA für Panik im ganzen Land. Die tödliche Waffe sind Schmerzmittel, die fast jeder zu Hause hat. Bis heute gelten die Tylenol-Morde als ungeklärt. Nun rollt eine Netflix-Serie den Fall neu auf. Wir erklären, was damals passierte.
Eigentlich sollen die Tabletten nur gegen Beschwerden wie Kopf- oder Halsschmerzen helfen: Doch sieben Menschen, die sie 1982 in Chicago nahmen, sind innerhalb von kurzer Zeit tot. Weisser Schaum vor dem Mund, verdrehte Augen, plötzliches Umfallen – so beschreiben Augenzeugen die letzten Minuten.
Keins der Opfer ist älter als 35 Jahre, das erste Opfer – Mary Kellerman aus Elk Grove Village – ist gerade einmal zwölf Jahre alt. Sie ist wegen einer Erkältung der Schule ferngeblieben. Auch Adam Janus, sein Bruder Stanley und dessen Frau Theresa im wenige Kilometer entfernten Arlington Heights können nicht mehr von den eintreffenden Rettungskräften gerettet werden. Weitere Opfer sind Mary Reiner, Mary McFarland und Paula Prince.
Ermittler stehen vor Rätsel
Die Ermittlungsbehörden stehen vor einem Rätsel: Wieso starben die jungen Menschen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen ihnen? Den entscheidenden Hinweis liefert Krankenschwester Helen Jensen: Sie stellt fest, dass alle drei Janus-Familienmitglieder am 30. September oder 1. Oktober Tylenol-Kapseln eingenommen haben.
Eigentlich ein Standardmedikament in der Hausapotheke und zu dieser Zeit das beliebteste rezeptfreie Schmerzmittel in den USA. Doch die Laboranalyse ergibt: Die Kapseln der Opfer sind mit dem Atemgift Zyanid manipuliert worden. Sie bestehen aus zwei Hälften, die sich leicht öffnen und wieder zusammensetzen lassen.
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Angst in der Öffentlichkeit
Als die Öffentlichkeit von den Todesumständen erfährt, macht sich die Angst breit. In einer Pressekonferenz wird der Bevölkerung geraten, bis auf weiteres kein Tylenol mehr einzunehmen. Der Pharmakonzern "Johnson & Johnson", dessen Tochtergesellschaft das Medikament herstellt, verliert in kurzer Zeit dramatisch an Marktwert.
Fast 100.000 Tylenol-Flaschen werden noch am 1. Oktober im Raum Chicago aus dem Verkauf gezogen, die Werbung und Produktion abrupt beendet, Hunderttausende Warnungen an Ärzte, Krankenhäuser und Apotheker verschickt und eine Krisenhotline ins Leben gerufen. Insgesamt werden in einer der grössten Rückrufaktionen des Landes mehr als 30 Millionen Packungen vernichtet – dem Unternehmen entsteht ein Schaden von rund 100 Millionen US-Dollar.
Erpresser fordert eine Million US-Dollar
Kurz darauf trifft bei Johnson & Johnson ein Brief ein – abgeschickt, bevor die Vergiftungen öffentlich bekannt wurden. Darin wird der Konzern aufgefordert, eine Million Dollar zu zahlen, damit die Tylenol-Morde aufhören.
Ungefähr gleichzeitig geht auch ein Drohbrief im Weissen Haus ein, in dem der Verfasser ankündigt, das Weisse Haus in die Luft sprengen und weitere Tylenol-Todesfälle herbeiführen zu wollen. Nach aufwändigen Ermittlungen und einem Kopfgeld in Höhe von 100.000 US-Dollar können die Behörden schliesslich James William Lewis als Absender identifizieren. Er ist Steuerberater und als Betrüger bekannt.
Beweise reichen nicht zur Anklage
Im Dezember wird James William Lewis in New York vom FBI verhaftet, seine Ehefrau stellt sich selbst. Zunächst ist das Bild für die Ermittler eindeutig: Während seiner Haft schreibt Lewis detailliert nieder, wie der Täter vorgegangen sein könnte – allerdings ohne Täterwissen preiszugeben. Ausserdem wird bei Lewis ein Buch über Vergiftungsmethoden gefunden. Er selbst streitet die Tat allerdings ab und bekennt sich nur zu den Erpresserbriefen.
Es kommen weitere Zweifel an ihm als Täter auf: Eigentlich war Lewis während der Vergiftungen mit seiner Ehefrau in New York. Auch lassen sich keine physischen Beweise wie zum Beispiel Fingerabdrücke finden, die auf ihn als Täter hindeuten. Es gibt weder Augenzeugen noch Material aus Überwachungskameras, das ihn bei der Manipulation der Medikamente aufgezeichnet hat.
Mehrere Verdächtige
Überwachungsbilder aus einer Walgreens-Apotheke in Chicago zeigen allerdings eins der Opfer, Paula
Zwischenzeitlich nehmen die Ermittler weitere Personen ins Visier, darunter Roger Arnold. Arnold war Lagerarbeiter und wurde von einem Barbesitzer bei den Behörden gemeldet. Dem gegenüber hatte er angekündigt, Menschen mit einem weissen Pulver töten zu wollen.
Exhumierung für DNA-Test
Der Vater eines der Opfer, Mary Reiner, war Arbeitskollege von Arnold. Ausserdem hatte Arnolds Frau in einem Krankenhaus gelegen, das direkt gegenüber dem Geschäft lag, in dem das spätere Opfer die vergifteten Tylenol-Kapseln gekauft hatte.
Auch bei Arnold wird ein verdächtiges Buch gefunden: Ein Exemplar von "The Poor Man's James Bond", in dem die Herstellung von Kaliumzyanid erklärt wird. Spätere DNA-Tests, für die sogar die Leiche von Arnold exhumiert wurde, liefern keine übereinstimmenden Ergebnisse zwischen Arnold und den Tylenol-Flaschen. Auch in seinem Fall reichen die Beweise nie für eine Anklage wegen Mordes.
Morde gelten als ungelöst
Zum 25. Jahrestag nehmen die Behörden die Ermittlungen wieder auf. Man hofft, dass Fortschritte in der Forensik zu neuen Ergebnissen führen. Doch auch Ermittlungen in Richtung des "Unabombers" Ted Kaczynski, der in der Region Briefbombenanschläge begangen hatte, bleiben erfolglos.
Die Mordfälle gelten daher noch immer offiziell als ungelöst. Lewis wird zu 20 Jahren Haft verurteilt, allerdings nur wegen Erpressung und nicht wegen Mordes. Nach zwölf Jahren wird er vorzeitig entlassen, 2023 stirbt er im Alter von 76 Jahren.
Mehrere Nachahmer-Taten
Auch wenn der Fall als ungeklärt gilt, haben die Tylenol-Morde zu weitreichenden Veränderungen bei der Herstellung, der Verpackung und dem Verkauf von Medikamenten geführt. Manipulationssichere Siegel sind heute weitreichender Standard. Bereits im Folgejahr verabschiedet der US-Kongress ein Gesetz, das Produkt-Manipulation unter härtere Strafe stellt. Auch die Food and Drug Administration (FDA) verschärft ihre Auflagen.
In den Jahren nach den Tylenol-Morden gibt es mehrere Nachahmungs-Fälle, darunter Stella Nickell. Sie manipuliert Excedrin-Kapseln mit Zyanid, um ihren Ehemann zu töten. Anschliessend hinterlässt sie kontaminierte Medikamente in Läden. Das Kalkül: Wenn auch andere Menschen auf diese Weise ums Leben kommen, wird der Tod ihres Mannes als Unfall eingestuft und die Lebensversicherung ausbezahlt.
Verwendete Quellen:
- PBS News: How the Tylenol murders of 1982 changed the way we consume medication
- netflix.com: The Tylenol Murders Revisits a Killer Who Lurked in US Medicine Cabinets
- CBS News: Chicago Tylenol Murders: 3 members of Janus family died in 1982, and pain has passed on to generations
- CNN News: After taking one Tylenol, Mary Kellerman collapsed and died soon after. Her murder changed how we consume medicine
- chicagohistory.org: The Chicago Tylenol Murders