Die Literatur tickt in der Romandie oft anders als in der Deutschschweiz. Autorinnen und Autoren variieren gängige Motive überraschend neu, mit attraktiven Resultaten. Frisch übersetzte Bücher veranschaulichen es.
In ihrem zweiten Roman "Generator" verknüpft Rinny Gremaud das Motiv der Suche nach dem Vater mit der Geschichte der Atomenergie. Die Erzählerin kam im AKW Kori in Südkorea zur Welt, als Kind "einer willensstarken, stolzen Mutter und eines möglichen Schufts", der im Werk als Ingenieur arbeitete. Doch kurz nach ihrer Geburt stahl er sich davon. Das war 1977. Vierzig Jahre später macht sich die Tochter auf seine Suche.
"Generator" ist ein ganz und gar erstaunliches Buch, in dem sich Biografie und Technikgeschichte gegenseitig überlagern. Gremaud, die wie ihre Erzählerin in Korea geboren ist, nähert sich der Vaterfigur über dessen Arbeit im AKW, die sie technisch versiert beschreibt. Indem sie den Stationen seines Wirkens folgt, begegnet sie allenthalben Zeugen der industriellen Verwüstung, die sie eindrücklich festhält.
Die Bruchstücke des väterlichen Lebens kittet die Erzählerin, indem sie ihre Suche zur literarischen Fiktion erhebt. "Ich hätte meine Mutter ausfragen können", schreibt sie, "aber ich erfinde lieber alles selbst", damit allen Beteiligten "Rückzugsräume, Zufluchtsorte und Grauzonen" bleiben. Auf diese Weise vermeidet sie ein peinliches Besserwissen und behält zugleich souverän die Kontrolle über ihre Geschichte. Gremaud findet subtil einen Erzählton zwischen Emotion, Reflexion und ironischer Brechung und verleiht so ihrer Sprache eine ausgesprochen schöne Koloratur.
Romain Buffat: "Grande-Fin"
Auch Romain Buffat begibt sich an einem Ort auf die Vatersuche, wo er nicht fündig werden kann. In "Grande-Fin" erzählt er von Jerôme, der mit 30 quer durch die USA nach Denver, Colorado reist, in die Traumlandschaft seines Vaters. Jerôme war 15, als dieser eines Nachts verschwand. Sein Auto wurde im See gefunden, er selbst blieb verschollen. Unfall, Selbstmord oder Flucht, fragt sich der Sohn und erinnert sich an einen gutmütigen, zugleich gepeinigten Menschen.
"Grande-Fin" macht ein Leben sichtbar, das zunehmend von Angst geprägt war; Angst vor dem Job und noch viel mehr vor dessen Verlust. Diese Angst warf ihren dunklen Schatten auf das familiäre Zusammenleben und prägte sich dem Jungen tief ein. Einfühlsam gelingt es Buffat, die beklemmende Erinnerung mit Songs von Bruce Springsteen zu unterlegen, die der Vater über alles mochte und in denen er sein Leben und sein Scheitern aufgehoben sah.
Musik wird in Buffats Roman zum echten Soundtrack, der die Erzählung stimmig unterlegt. Ein Springsteen-Konzert in Denver ist denn auch Ziel und Höhepunkt von Jérômes Reise. Hier findet er den Frieden mit dem Vater und mit seinen Erinnerungen.
Elen Fern: "Wenn die Welse kommen"
Die Autorengruppe AJAR pflegt seit längerem eine literarische Spezialität: den Kollektivroman. Unter dem Pseudonym Elen Fern haben sich Matthieu Ruf, Aude Seigne, Anne-Sophie Subilia und Daniel Vuataz zusammengetan, um gemeinsam ein dystopisches Szenario zu entwickeln. "Wenn die Welse kommen" beschreibt eine Stadt, die im Wasser versinkt. In der Not haben sich die Menschen in die oberen Etagen der Hochhäuser zurückgezogen.
Eine junge Bürgermeisterin hält die Hoffnung aufrecht, dass die Flut zurückgeht und die Stadt wieder bewohnbar wird. Zwei Taucher sollen ihr helfen, alte Pläne aus den Fluten zu retten. Diese aber erkennen schnell die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Mehr noch kommen sie der Gefahr auf die Schliche, die von Welsen ausgeht, die Kinder zu fressen scheinen.
"Wenn die Welse kommen" entwickelt eine dichte, düstere Atmosphäre, die unerwartet aufgehellt wird. Die Kinder verschwinden nicht spurlos, vielmehr flüchten sie und rotten sich in der Unwirtlichkeit der Peripherie zusammen. Von den Erwachsenen erwarten sie nichts mehr. Der Roman beschreibt eine fantastisch anmutende Welt, die als "climate fiction" gelesen werden kann, ohne ganz in diesem Genre aufzugehen. Hinter den überraschenden Wendungen lässt das Kollektiv Elen Fern eine utopische Hoffnung aufblitzen.
Thierry Raboud: "Schieflage"
Ähnlich bedeutungsoffen präsentiert sich das Langgedicht "Schieflage" des Lyrikers und Musikers Thierry Raboud. Einsetzend mit der Zeile, "und alles finge von vorne an", vergegenwärtigt sich das lyrische Ich die Geschichte der Menschheit. Geologie bricht auf und Wachstum keimt, von dem getragen das Ich den "höchsten punkt / dessen was wir waren" erklimmt, bevor "eins vor Zwölf" die Flut hereinbricht.
Empfehlungen der Redaktion
Rabouds Naturgedicht beschwört die verdrängte Klimakatastrophe, ohne sich durch explizite Bilder selbst zu entkräften. Der Abgesang bleibt in subtiler Schwebe, das lyrische Ich nimmt sich selbst mit in den Blick. In der ökologischen Krise erkennt es auch ein kulturelles und gesellschaftliches Desaster, das von den "Salonmeistern verlorener Illusionen" nostalgisch befeuert wird.
Alles hängt mit allem zusammen, es gibt weder Anfang noch Ende. Dies verdeutlicht Raboud, indem er die Seiten in umgekehrter Reihenfolge von 61 bis 9 nummeriert. "Schieflage" ist ein betörend schönes, anspielungsreiches, unruhig mäanderndes Gedicht, das einmal in Prosa kurz innehält. Mit den Zeilen "Wir solidarisch Wir / Hier" klingt es wie ein Manifest der "Kinder des Anthropozäns".*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA