Nachsichtig mit übergriffigen Männern sind im neuen Roman von Pascale Kramer vor allem die Frauen - auch die Autorin selbst.
"Wir wollen nicht alles wissen", sagt Anne-Lise, die Hämatome im operierten Gesicht überpudert, die Lippen so aufgespritzt, wie ihr verstorbener Mann sie mochte, und klappt dessen hinterlassenes Laptop zu.
"Die aufreizendsten Lippen der Welt" hatte Vincent einst an ihr festgestellt, und er musste es wissen. Nicht die Welt, aber doch alles Weibliche in seiner Reichweite graste er ab, alte und neue Eroberungen, wiederkäuend bis zum Erbrechen.
Beim Lesen des Romans "Die Nachsichtigen" wird einem tatsächlich schlecht. Sei es, dass Pascale Kramer mit voyeuristischer Lust beschreibt, wie am Glied des alternden Vincent "ein kleiner roter Tropfen" hängt, nachdem er seine Nichte und Verehrerin Clémence entjungfert hat.
Oder sei es das eigenartige Vokabular, mit dem die in Paris lebende Genfer Autorin ihre obsessiven Figuren bezeichnet: "rührend" und "gerührt" sind diese, "zärtlich", ja "von unendlicher Zärtlichkeit" beseelt. Die deutsche Übersetzung mag wenig elegant sein, schuld an der inhaltlichen Plattheit der Geschichte ist sie nicht.
Trägerin des Grand Prix Literatur
"Kramers Texte sind grosszügig: Jede Figur, sei sie noch so düster, komplex oder boshaft, wird trotz allem mit Wohlwollen behandelt", hiess es 2017 in der Laudatio des Bundesamtes für Kultur, als die Autorin den Grand Prix Literatur erhielt.
Empfehlungen der Redaktion
Im neuen Roman ist Kramers Wohlwollen einer offensichtlichen Verliebtheit in den eigenen Protagonisten gewichen. Denn Vincent ist weder düster noch komplex oder boshaft, er ist bloss ein nostalgisch verklärter "Frauenheld" der "freien" 1970er-Jahre. Umgeben von so viel Nachsicht wird seine spätgeborene Tochter Sofia, Generation #MeToo, mit ihrer Klage wohl ins Leere laufen.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. © Keystone-SDA