Ein neuer Bericht der Integrierten Klassifikation zur Ernährungssicherheit (IPC) zeigt die katastrophale Situation im Gazastreifen. Seit über 60 Tagen konnten keine neuen Hilfsgüter an die Zivilbevölkerung verteilt werden. Hunger, Krankheit und Tod sind die Folgen.
Die Menschen in Gaza stehen am Rande einer Hungersnot. Das hat ein IPC-Bericht (Integrated Food Security Phase Classification) ergeben, der heute veröffentlicht wurde. Seit mehr als 60 Tagen werden humanitäre Hilfsgüter blockiert, weder Essen, Medikamente noch Versorgung dringen durch. Zusätzlich birgt die erneute Eskalation der Kämpfe eine grosse Gefahr für die Zivilbevölkerung.
Die Lage wird immer ernster, denn durch den Mangel an Lebensmitteln und überlebenswichtigen Gütern könnte es in den folgenden Monaten vermehrt zu Vertreibungen kommen. Zivile Unruhen und der Wettbewerb um das Wenige, was es gibt, können den Druck auf die Bevölkerung immens erhöhen. Sollte es so weit kommen, heisst es in dem Bericht, "würden Ernährungsunsicherheit, akute Unterernährung und die Sterblichkeitsrate die Schwellenwerte […] überschreiten".
Ab wann ist Hunger eine Hungersnot?
Die Skala des IPC ist fünfstufig: Sie reicht von "minimal", unter welche die meisten Länder des Globalen Nordens fallen, bis zu Stufe fünf: einer Hungersnot. Wird diese ausgerufen, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: So müssen mindestens 20 Prozent der Bevölkerung Zugang zu höchstens 2.100 Kilokalorien am Tag haben, mehr als 30 Prozent der Kinder bis fünf Jahre akut unterernährt sein und jeden Tag mindestens zwei von 10.000 Menschen sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.
Unterschieden wird auf der Stufe fünf ausserdem zwischen einer Hungerkatastrophe, bei der ein Fünftel der Bevölkerung betroffen sind, und einer Hungersnot, bei der ein ganzes Gebiet betroffen ist. Somit können in einem Gebiet einzelne Haushalte zu Stufe fünf zugeordnet werden, ohne dass jedoch eine Hungersnot für ein ganzes Gebiet ausgerufen wird. Die offizielle Deklaration einer Hungersnot erfolgt ausschliesslich durch die Vereinten Nationen oder die jeweilige Landesregierung.
In Gaza sind von April bis zum 10. Mai 93 Prozent der analysierten Bevölkerung auf einer Stufe drei des IPC oder höher eingestuft worden. 244.000 Menschen sind in diesem Zeitraum der Stufe fünf zugeordnet, sie sind von katastrophalem Hunger betroffen.
Kinder sind besonders durch die Blockade bedroht
Durch die Blockaden erleben die Menschen in Gaza laut UNICEF zurzeit die schlimmste Krise seit Beginn des Krieges. Bei Kleinkindern ist die Bedrohung durch Mangelernährung besonders hoch. Ihr Wachstum wird gestört, ihre kognitiven Fähigkeiten können durch wiederholte Hungerphasen beeinträchtigt werden. Somit kann ihr ganzes Leben von der Hungerphase geprägt sein. Zudem sind sie durch ein geschwächtes Immunsystem deutlich anfälliger für Krankheiten.
Das ist an einem Ort wie Gaza derzeit besonders dramatisch. Denn medizinische Versorgung gibt es kaum, Impfstoffe werden immer weniger und Krankheiten breiten sich aus. Besonders gefährlich ist wässriger Durchfall, der in Gaza laut UNICEF zurzeit fast jeden vierten Krankheitsfall bei Kleinkindern ausmacht. Die ohnehin geschwächten und mangelernährten Kinder verlieren so noch mehr Flüssigkeit und Nährstoffe.
Auch Kinder, die gegen die Mangelernährung und schwere Auszehrung behandelt werden, zum Beispiel mit therapeutischer Zusatznahrung, bleiben sehr verletzlich und haben ein erhöhtes Sterberisiko.
Humanitäre Hilfe muss dringend nach Gaza, fordert UNICEF
"Familien kämpfen ums Überleben. Sie sind eingeschlossen und können nicht fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen", sagte Catherine Russell, UNICEF-Exekutivdirektorin, in einem Statement Anfang Mai. "Die Felder, die sie früher bestellt haben, wurden zerstört. Der Zugang zum Meer, das sie zum Fischen genutzt haben, wurde eingeschränkt. Bäckereien schliessen, die Wasserproduktion geht zurück und die Marktregale sind fast leer. Humanitäre Hilfe war die einzige Lebensader für Kinder, und nun ist sie fast versiegt."
Durch die Blockaden sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen, viele Familien können sich die wenigen verfügbaren Dinge nicht mehr leisten. Israel wirft der Terrororganisation Hamas vor, Hilfslieferungen gestohlen und diese an die eigene Bevölkerung teuer weiterverkauft oder gebunkert zu haben.
Welche Hilfe leistet UNICEF?
Laut UNICEF gehen die Vorräte zur Vorbeugung von Mangelernährung zur Neige und die Mittel zur Behandlung von akuter Mangelernährung sind fast aufgebraucht. Das Kinderhilfswerk und andere Organisationen wie das World Food Program (WFP) sind weiterhin im Gazastreifen aktiv und helfen mit dem, was noch vorhanden ist.
Mehr als 116.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe stehen bereit, um Millionen von Menschen für mehrere Monate zu ernähren. UNICEF und das WFP fordern alle beteiligten Parteien auf, die Bedürfnisse der Bevölkerung an erste Stelle zu setzen und sofort humanitäre Hilfe zuzulassen.
Verwendete Quellen
- unicef.de: Gaza: Zwei Monate Blockade der Hilfslieferungen laut UNICEF "durch nichts zu rechtfertigen"
- help-ev.de: Was ist eine Hungersnot?
- Bericht IPC: Gaza Strip: IPC Acute Food Insecurity and Acute Malnutrition Special Snapshot
- unicef.de: Neuer Bericht warnt vor drohender Hungersnot im Gazastreifen