Nach zwischenzeitlichen Waffenruhen will Israel seine Offensive in Gaza nun weiter ausweiten und beruft dafür Zehntausende Reservisten ein. Ausserdem ist von einem Bevölkerungstransfer die Rede. Geht es wirklich noch darum, Geiseln zu befreien und die Hamas zu zerschlagen?
Das israelische Sicherheitskabinett hat es einstimmig beschlossen: Die Offensive im Gazastreifen soll verschärft und die Angriffe ausgeweitet werden. Dafür werden Zehntausende Reservisten mobilisiert, die reguläre Truppen in anderen Landesteilen ablösen sollen. Ministerpräsident
Doch bei den Angehörigen der Geisel wachsen Zweifel. Denn gleichzeitig bestätigte Netanjahu, dass israelische Soldaten künftig dauerhaft im Gazastreifen stationiert bleiben und Anwohner umgesiedelt werden sollen. Die Angehörigen fürchten: Die Regierung wolle die Geiseln "opfern", um Land zu erobern. Hat sich Israel von seinen ursprünglichen Kriegszielen entfernt?
Was waren die ursprünglichen Kriegsziele Israels nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023?
Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erklärte Ministerpräsident Netanjahu die Absicht, die Hamas zu vernichten. Definiert wurde das mit dem Sturz der Hamas-Regierung und der Zerstörung ihrer militärischen Fähigkeiten. Die Hamas solle nicht mehr in der Lage sein, Israel vom Gazastreifen aus terroristisch zu bedrohen und militärisch sowie politisch keine Rolle mehr spielen.
Als weitere Ziele wurden die Befreiung der über 200 Geiseln und der Schutz der israelischen Grenzen ausgegeben. Nahost-Experte Simon Wolfgang Fuchs meint: "Unmittelbar nach dem 7. Oktober waren die Ziele zumindest in der Theorie klar". Schnell habe es jedoch Zweifel gegeben, ob das Schicksal der Geiseln tatsächlich an erster Stelle stehe.
Wie viel hat Israel von den Zielen erreicht?
Israel hat auf den Terrorangriff mit der Militäroperation "Eiserne Schwerter" geantwortet, die zunächst mit massiven Luftangriffen startete und dann als Bodenoffensive fortgesetzt wurde.
Die israelische Armee hat bereits mehrere Tausend Hamas-Terroristen getötet oder festgenommen, darunter auch viele hochranginge Kommandeure. Zur bisherigen Bilanz zählt auch die Beschlagnahmung zahlreicher Waffen der Hamas. "Es gibt aber insgesamt wenig militärische Erfolge und gleichzeitig tote und verwundete Soldaten, deshalb ist auf israelischer Seite eine grosse Frustration zu spüren", sagt Fuchs.
Von den über 200 Geiseln befinden sich Dutzende weiterhin in Gefangenschaft, wie viele davon noch leben, ist unklar. "Von einer Zerschlagung der Hamas kann aktuell nicht die Rede sein", sagt auch Fuchs. Immer, wenn die israelische Armee in ein Gebiet hineingegangen sei und es von Hamas-Terroristen befreit habe, hätte sich die Hamas nur in andere Gebiete zurückgezogen.
Gleichzeitig ereignet sich im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe. Zehntausende Menschen wurden getötet, die Menschen in Gaza leiden unter Hunger und haben kaum Zugang zu Hilfsgütern und medizinischer Versorgung.
Kann Israel seine ursprünglichen Kriegsziele noch erreichen?
Im vergangenen Jahr sagte Netanjahu: "Der Krieg darf nicht beendet werden, bevor wir unsere Ziele erreicht haben." Er wiederholte als Ziele die Beseitigung der Hamas, die Rückkehr aller Geiseln und die Sicherstellung, dass der Gazastreifen keine Gefahr mehr für Israel darstellt. Damals sagte Netanjahu: "Ich sage das sowohl unseren Feinden als auch unseren Freunden."
Experten bezweifeln jedoch, dass die Erreichung der Kriegsziele realistisch ist. Herausfordernd für die israelische Armee sind vor allem die dicht besiedelten Gebiete und das komplexe Tunnelsystem der Hamas. Die Hamas nutzt ausserdem immer wieder zivile Einrichtungen, um sich zu verstecken, was zu moralischen Debatten führt.
Laut Einschätzung von Beobachtern mangelt es Israel nicht an militärischer Ausrüstung, sondern an Wissen über gross angelegte urbane Operationen. Selbst, wenn Israel militärisch Erfolge verzeichnet, wird der politische und moralische Preis immer weiter in die Höhe getrieben.
Was sind heute die Ziele Israels?
Experte Fuchs meint: "Seit Anfang dieses Jahres sind zwei Kriegsziele mehr oder weniger offiziell hinzugetreten, auch die Prioritäten haben sich verschoben." Ein Ausgangspunkt dafür sei das im Januar von Ägypten, Katar und den USA vermittelte Abkommen zwischen Israel und der Hamas gewesen.
Dieses Abkommen zwischen Israel und der Hamas sah neben einer Waffenruhe und dem Freikommen von Geiseln und Gefangenen auch vor, dass sich Israels Militär aus den dicht bevölkerten Gebieten des Gazastreifens zurückzieht. Führende rechte Politiker wie Itamar Ben-Gvir hatten das Abkommen jedoch abgelehnt und sogar mit einem Rücktritt gedroht, sollte es ratifiziert werden. Gvir und seine Partei hatten sogar die Koalition verlassen und waren erst zurückgekehrt, als Israel einseitig die Waffenruhe gebrochen hatte.
Experte: "Hat schon damals nicht zusammengepasst"
"Um die Zustimmung von rechten Parteien zu ermöglichen, wurde als weiteres Ziel ausgegeben, dass es in Zukunft möglicherweise zu einer längerfristigen israelischen Präsenz im Gazastreifen kommen wird", sagt Fuchs. Netanjahu hatte in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass Israel die "Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordans" behalten müsse. "Dieses Ziel und die Vereinbarungen im Abkommen – das hat schon damals nicht zusammengepasst", kommentiert Fuchs.
Mit der Amtsübernahme
Haben sich die Prioritäten geändert?
"Der gesamte Transfer – beziehungsweise Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen – ist jetzt mittlerweile in den Rang eines der Kriegsziele erhoben worden", sagt Fuchs. Israel und die USA haben im März diplomatischen Kontakt mit Somalia und dem Sudan aufgenommen, um eine mögliche Umsiedlung dorthin zu prüfen. "Vor diesem Hintergrund ist auch die Absicht zu sehen, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens innerhalb der nächsten sechs Monate in Rafah zusammenzudrängen und sie dort vorübergehend von amerikanischen Sicherheitsfirmen versorgen zu lassen," so Fuchs. Dies solle die Umsiedlung erleichtern. Zwangsmigration ist jedoch völkerrechtswidrig.
Auch die Prioritäten der Kriegsziele haben sich laut Fuchs geändert: "An oberster Stelle steht jetzt der Sieg über die Hamas, das ist mittlerweile dem Überleben und der Rückkehr der Geiseln offiziell untergeordnet worden, was die Familien der Geiseln extrem empört", so Fuchs.
Dazu passen die Ergebnisse einer Befragung von grösstenteils US-amerikanischen Nahost-Forschern im vergangenen Jahr. Die Mehrheit (57 Prozent) hielt "Gaza unbewohnbar machen, um die Palästinenser herauszuzwingen" für das primäre Kriegsziel. Die Zerstörung der Hamas wurde nur von 15 Prozent genannt, ungefähr genauso viele halten den Machterhalt der israelischen Regierung für das oberste Kriegsziel.
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Welche Rolle spielt Netanjahus politische Zukunft?
Experte Fuchs ist sich sicher: Die ursprünglichen Kriegsziele allein erklären nicht, warum der permanente Kriegszustand andauert. "Das hat auch mit dem politischen Überleben von Netanjahu zu tun", sagt er. So weigere er sich beispielsweise, eine Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen rund um den 7. Oktober einzusetzen. "Ein solcher Ausschuss würde viele Verfehlungen aufdecken und auch aufzeigen, wie Truppen weg vom Gazastreifen hin in die Westbank verschoben worden sind, um dort in den besetzten Gebieten Siedlungen zu schützen", so Fuchs. All das könnte auch die Rufe nach Neuwahlen befördern.
"Deshalb will Netanjahu das alles unter dem Deckel halten, um quasi so lange wie möglich mit dieser Regierung weiterzumachen und sich bis zu den nächsten Wahlen zu schleppen", sagt der Experte. Anders als mit dem innenpolitischen Kalkül kann man aus seiner Sicht kaum erklären, warum Israel den Krieg jetzt wieder intensiviert und keine Lösung für die Zukunft anbietet.
"Wenn es wirklich nur um die offiziellen Kriegsziele gehen würde, müsste man auch eine Alternative anbieten", sagt Fuchs. Die israelische Regierung habe alle Alternativen zu einer Kontrolle der Hamas im Gazastreifen ausgeschlossen. So sei die palästinensische Autonomiebehörde sofort vom Tisch gewischt worden, obwohl man mit ihr recht intensiv und vertrauensvoll in Sicherheitsfragen in der Westbank zusammenarbeite.
Wie dürfte die internationale Gemeinschaft reagieren?
Fuchs erwartet aus den USA wenig Kritik an den neuen Kriegszielen und den Umsiedlungsplänen. "Mit der Amtsübernahme von Trump sah es zunächst danach aus, dass die Amerikaner andere Seiten gegenüber der israelischen Regierung aufziehen. Aber spätestens als Trump über seine Riviera-Vision geteilt hat, war der Druck raus", so der Experte.
Trump habe dem israelischen Plan, die gesamte Bevölkerung auf einem recht engen Raum zusammenzudrängen, im Grunde zugestimmt – "auf der Grundlage, dass die Hamas sich an den Hilfslieferungen bisher angeblich stark bereichert habe", sagt Fuchs.
Von europäischer Seite sehe man Verurteilungen und Versuche, auf die israelische Regierung einzuwirken. "Das wirkt jedoch zunehmend zahnlos", so Fuchs. Solange von den USA keine andere Haltung eingenommen werde, könnten die europäischen Appelle recht wenig ausrichten, schätzt er. "Die israelische Regierung ist ausserdem bereit, sich all diesem Druck mit Vehemenz entgegenzustellen", sagt er.
Gibt es Alternativen zu einer vollständigen Zerschlagung der Hamas?
Fuchs sagt: "Das einzige Szenario, das momentan angeboten wird, läuft auf einen Bevölkerungstransfer hinaus." Eine andere Lösung propagiere die israelische Regierung nicht.
Die einzige Hoffnung ruhe auf dem Besuch von Donald Trump in der Region – in Qatar, in Bahrain und in Saudi-Arabien. "Dort könnte man vielleicht noch einmal zu einer anderen Lösung kommen, falls die arabischen Staaten unter Führung von Saudi-Arabien Trump einen anderen Deal vorschlagen, dem er zustimmen könnte, um dann auch Druck auf die israelische Regierung auszuüben", sagt Fuchs.
Ägypten und Jordanien hätten bereits signalisiert, an dem Wiederaufbau des Gazastreifens mitzuarbeiten, ernsthaft diskutiert werde das auf israelischer Seite aber nicht. "Israel hat den Schalter umgelegt – es geht gar nicht mehr um Wiederaufbau und Rehabilitierung in Gaza. Darüber will man gar nicht nachdenken und Pläne entwickeln. Stattdessen steht die Phantasie im Raum, im völlig zerstörten Gaza Streifen wieder israelische Siedlungen zu errichten", sagt Fuchs.
Über den Experten:
- Dr. Simon Wolfgang Fuchs ist Professor für Islam im Nahen Osten und Südasien an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Der Nahost-Experte arbeitet zum modernen Islam im Nahen Osten, Südasien sowie in globalen Kontexten