Die medizinische Forschung war lange nur auf Männer ausgerichtet – auch in Führungspositionen der Medizin sind Frauen unterrepräsentiert. Die geschlechterspezifische Lücke im Gesundheitsbereich hat drastische Auswirkungen. Was kann die Politik dagegen unternehmen?
Die Brust schmerzt und fühlt sich eng an, die Schmerzen strahlen aus in den linken Arm. Bei diesen Anzeichen ist klar: Sie sollten direkt zum Arzt – zumindest als Mann. Während diese Symptome bei Männern Anzeichen eines Herzinfarktes sind, klagen Frauen neben einem typischen Brustschmerz häufig über andere Symptome: Atemnot, Schmerzen im Oberkörper, übermässige Müdigkeit oder auch Übelkeit und Erbrechen.
Noch im Medizinstudium von Lena Seegers galt der Herzinfarkt als reine Männererkrankung. Heute ist bekannt: "Die Symptome sehen zwischen den Geschlechtern unterschiedlich aus", erklärt die Kardiologin und Gründerin des ersten universitären Frauenherzzentrums in Deutschland im Gespräch mit unserer Redaktion. Daher bleibt die Krankheit bei Frauen häufiger unentdeckt oder wird zu spät erkannt.
Gender Health Gap: Wissenslücken zu den Geschlechtern
Der Herzinfarkt ist das bekannteste Beispiel für den sogenannten Gender Health Gap – eine Ungleichheit im Gesundheitssystem: Krankheiten wurden lange nur anhand eines Geschlechts beschrieben, erforscht und behandelt.
Leidtragende sind in den allermeisten Fällen Frauen. Denn sie "sterben mehr als doppelt so häufig an einem Herzinfarkt wie Männer", sagt Seegers. Doch das Phänomen gibt es auch andersherum: "Ein Gegenbeispiel zum Herzinfarkt ist die Depression – eine Krankheit, bei der die Symptome der Frauen bekannter sind", sagt Christiane Gross, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. Männer mit Depressionen zeigen häufiger Schmerzerkrankungen als Frauen, neigen zu Sucht und aggressivem Verhalten.
Frauen in Studien stark unterrepräsentiert
Ursachen für den Gender Health Gap erklärt Gross mit einem Blick in die Vergangenheit: "Früher hat man sich noch keine Gedanken darüber gemacht, dass Männer und Frauen unterschiedlich krank sind." Die gesamte Grundlagen- und Medikamentenforschung habe hauptsächlich an Männern oder an männlichen Tieren stattgefunden.
Frauen wurden lange nicht in die Arzneimittelforschung aufgenommen, weil im Fall einer Schwangerschaft Gefahren für das ungeborene Kind befürchtetet wurden. Zudem gelten wissenschaftliche Untersuchungen, die den Hormonzyklus der Frau in die Forschung einbeziehen, als zu teuer. Das Problem habe sich durch effiziente Schwangerschaftsverhütung deutlich entschärft. "Seit den 90er Jahren müssen neue Medikamente verpflichtend auch an Frauen getestet werden", merkt Christiane Gross an.
Auch in der Politik ist die Herausforderung inzwischen bekannt. Die Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) sieht aber auch positive Entwicklungen, zum Beispiel das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Mit dem im Jahr 2024 in Kraft getretenen Gesetz werden "klinische Daten unter Angabe des Geschlechts gesammelt und der Wissenschaft zur Verfügung gestellt," erklärt sie auf Anfrage.
Dennoch ist die Datenbasis in Bezug auf das weibliche Geschlecht historisch bedingt in vielen Bereichen noch zu klein. Kappert-Gonther nennt Zahlen: "Bis heute sind Frauen mit einem Anteil von 33 Prozent in klinischen Studien unterrepräsentiert, dabei machen sie 51 Prozent der Bevölkerung aus."
Gendersensible Medizin gegen den Gender Health Gap
Sowohl Seegers als auch Gross sprechen sich für mehr individuelle und geschlechterspezifische Forschung und Behandlungen aus. "Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, ob Kind oder Erwachsener, benötigt eine eigene Definition von Symptomen sowie dementsprechende, spezifische Medizin", sagt Gross. Dass sich der weibliche Körper durch die Hormone anders zusammensetzt als der männliche, müsse bei der Entwicklung und Erprobung von Medikamenten berücksichtigt werden.
Geschlechterspezifische Medizin ist bereits Teil der Weiterbildungsordnung für Ärztinnen und Ärzte. Doch die Ärzteschaft fordert seit Jahren, diese Inhalte auch als prüfungsrelevant im Medizinstudium zu verankern. Das sei bisher nicht in der Approbationsordnung für Ärzte festgelegt – diese müsste Gross zufolge überarbeitet und neu zugelassen werden. "Das muss seitens der Politik passieren", fordert die Medizinerin.
Das Bundesgesundheitsministerium will das Medizinstudium deshalb reformieren: Das Fach "Geschlechterspezifische Medizin" soll in die Studienordnung aufgenommen werden, teilt eine Sprecherin des Ministeriums mit. Die geplante Neuordnung ist aber vorerst auf das Jahr 2027 verschoben worden.
Männliche Dominanz verhindert weiblichen Blick
Die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes benennt eine weitere strukturelle Ursache für den Gender Health Gap: Die meisten Führungspositionen in der Branche werden von Männern besetzt. "Noch immer haben mehr Männer in der Forschung das Sagen", sagt Gross. Dadurch fehle "der weibliche Blick".
Die ungleiche Verteilung der Führungspositionen zwischen den Geschlechtern beschäftigt auch Simone Borchardt, gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. "Sie müssen als Frau doppelt so stark kämpfen und sich immer wieder unter Beweis stellen, um im Managementbereich anzukommen", sagt sie. Frauen würden mit ihren eingeschränkten Aufstiegschancen immer noch an "eine Art gläserne Decke" stossen.
Helfen feste Quoten?
Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf erste Fortschritte in dem Bereich. 2015 hat der Gesetzgeber erstmals in manchen Bereichen Geschlechterquoten eingeführt. In den Vorständen von Krankenkassen müsse zum Beispiel mindestens eine Frau vertreten sein.
Empfehlungen der Redaktion
Grünen-Politikerin Kappert-Gonther sieht feste Quoten als "ein wirksames Mittel". Es brauche eine Interessenvertretung durch Frauen in Führungsebenen. Werden die Quoten nicht eingehalten, fordert sie entsprechende Sanktionen.
Trotz erster Verbesserungen bleibt der Anteil an Frauen in Führungspositionen im Medizinbereich gering. Das zeigt das Beispiel der deutschen Universitätsmedizin: 2016 waren nur zehn Prozent der Führungspositionen in klinischen Fächern und Dekanaten der Unikliniken von Frauen besetzt. Bis 2024 stieg der Anteil auf lediglich 14 Prozent an, wie eine Studie des Deutschen Ärztinnenbundes gezeigt hat. Die Zahl steht in deutlichem Kontrast zu den Medizinstudierenden, wie Kappert-Gonther betont: Von denen sind 60 Prozent weiblich.
Über die Gesprächspartnerinnen
- Dr. med. Lena Marie Seegers ist Kardiologin und Forscherin. Sie leitet das im Jahr 2023 gegründete "Women’s Heart Health Center Frankfurt" – das erste universitäre Frauenherzzentrum in Deutschland.
- Dr. med. Christiane Gross ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement. Zudem ist sie Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes.
- Simone Borchardt ist gesundheitspolitische Sprecherin und Co-Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
- Dr. Kirsten Kappert-Gonther ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Politikerin der Partei Bündnis 90/Die Grünen. In der vergangenen Legislaturperiode war sie amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag.
Verwendete Quellen
- femnacare.de: Gender Health Gap: Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung
- aerztinnenbund.de: Medical Women on Top
- Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums