• Immer mehr resistente Erreger breiten sich aus.
  • Helfen gängige Antibiotika nicht mehr, kommen Reserveantibiotika zum Einsatz – doch auch sie sind nicht davor gefeit, ihre Wirkung zu verlieren.
  • Was passiert, wenn selbst Reserveantibiotika nicht mehr wirken? Und wie gross ist das Problem mit resistenten Erregern schon heute?

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Sie gelten als eine der grössten Errungenschaften der Medizin: Antibiotika. Bevor Penicillin im Jahr 1941 erfunden wurde, konnte schon ein kleiner Schnitt in der Haut tödliche Folgen haben.

Heute lassen sich Blutvergiftungen oder Lungenentzündungen dank Antibiotika gut behandeln. Zumindest noch, denn die Wunderwaffe im Kampf gegen Staphylokokken und Co. schwächelt.

"Wir bewegen uns in die Richtung eines 'postantibiotischen Zeitalters'"

"Wir bewegen uns in die Richtung eines 'postantibiotischen Zeitalters', doch noch steht es nicht unmittelbar bevor", sagt Professor Mark Brönstrup, Leiter der Abteilung für chemische Biologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionskrankheiten. Unsere Antibiotika seien heute noch grösstenteils wirksam - doch das könnte sich in Zukunft ändern. Immer mehr bakterielle Erreger sind gegen Antibiotika resistent und diese Keime lauern überall: In Krankenhäusern, auf Fleischwaren und selbst in Badeseen, wie eine NDR-Recherche offenbarte.

Hat sich ein Mensch mit einem resistenten Erreger infiziert und bleiben Standardantibiotika wirkungslos, kommen Reserveantibiotika zum Einsatz. Im Gegensatz zu den Standardantibiotika gibt es gegen sie weniger Resistenzen, weil sie in der Vergangenheit nicht oder nur selten zum Einsatz gekommen sind – entweder, weil sie erst seit Kurzem auf dem Markt sind oder weil sie weniger gut verträglich sind.

Das Reserveantibiotikum Colistin etwa wurde bereits in den 1950er-Jahren entdeckt, jedoch nur selten eingesetzt, da es schwere Nierenschäden verursacht. "Durch die Resistenzentwicklung setzen Mediziner Colistin nun wieder ein", sagt Professor Brönstrup. "Es verursacht immer noch Nierenschäden, aber wenn kein anderes Antibiotikum mehr wirkt, muss man das ein Stück weit in Kauf nehmen." Reserveantibiotika sind also keine universelle Wunderwaffe, die besonders gut wirkt, sondern das letzte Mittel, wenn ein Leben auf dem Spiel steht.

Um die Bedeutung verschiedener Antibiotika hervorzuheben, hat die WHO alle verfügbaren Mittel in drei Kategorien unterteilt. Zur ersten Kategorie "Access" zählen die gängigen Standardantibiotika, die Medikamente der zweiten Kategorie "Watch" sollen mit Bedacht eingesetzt werden und die letzte Kategorie "Reserve" soll der Behandlung von Erregern vorbehalten sein, die gegen andere Antibiotika resistent sind. Neben Colistin gelten 25 weitere Antibiotika als "last resort", als letzter Strohhalm, wenn sonst nichts mehr hilft.

Liese: "Es werden immer noch zu viele Reserveantibiotika eingesetzt"

Doch so exklusiv, wie der Einsatz von Reserveantibiotika scheint, ist er nicht. "Es werden immer noch zu viele Reserveantibiotika eingesetzt", sagt Jan Liese, Leiter der Sektion Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Tübingen. Generell sei die Kenntnis über Antibiotikatherapien noch verbesserungsfähig, auch an Unikliniken.

Zwar ging der Verbrauch von Antibiotika und Reserveantibiotika in Deutschland zuletzt zurück, doch laut einer Studie des AOK-nahen Forschungsinstituts WIdO zählten 53 Prozent der 2019 verschriebenen Antibiotika zur zweiten und dritten WHO-Kategorie. Auch in der industriellen Tierhaltung kommen Reserveantibiotika zum Einsatz.

Eine EU-Initiative, die das Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung anstrebte, scheiterte 2021 im EU-Parlament. Dabei sind auch Reserveantibiotika nicht davor gefeit, ihre Wirkung zu verlieren. "Es gibt vereinzelt Erreger, die tatsächlich komplett resistent gegen alle verfügbaren Antibiotika sind und somit auch nicht mehr mit Reserveantibiotika behandelt werden können", sagt Liese.

Experte: "Jeder Einsatz von Antibiotika fördert Resistenzen"

Hauptursachen für die fortschreitende Entwicklung von Resistenzen sind der zu häufige Einsatz und der falsche Umgang mit Antibiotika. "Jeder Einsatz von Antibiotika fördert Resistenzen", erklärt Liese. Resistenzen kommen bei Bakterien ganz natürlich vor, entweder durch zufällige Mutationen oder durch die Aufnahme von Resistenzgenen im Austausch mit anderen Bakterien. Dieser Genaustausch ermöglicht auch die Entstehung multiresistenter Erreger, denn Bakterien können mehrere solcher Resistenzgene aufnehmen und so gegen verschiedene Antibiotika unempfindlich werden.

"Den Gebrauch und Verbrauch von Antibiotika zu verringern ist ein ganz wichtiger Schritt im Kampf gegen Resistenzentwicklungen", sagt Liese. "Das betrifft nicht nur die Humanmedizin, sondern auch die Tiermedizin." Resistenzen können sich entwickeln, egal, ob die Medikamente an Menschen oder Tiere verabreicht werden. Entscheidend ist vor allem die Menge – und die ist in der Tiermast besonders hoch.

Noch 2019 wurden nach Angaben der AOK rund 340 Tonnen Antibiotika an Patientinnen und Patienten in Deutschland verschrieben. Demgegenüber stehen rund 670 Tonnen in der industriellen Tierhaltung, darunter auch Reserveantibiotika.

Erkrankt ein Tier, wird in der konventionellen Tierhaltung häufig der ganze Stall mit Hunderten Tieren mitbehandelt. Die Haltungsbedingungen machen den Einsatz von Antibiotika notwendig: Bei vielen Tieren auf engem Raum können sich Krankheitserreger schnell ausbreiten. Das gilt allerdings auch für resistente Bakterien, die dann über Gülle oder die Abluft von Ställen in die Umwelt gelangen.

Was passiert, wenn kein Antibiotikum mehr hilft?

Je mehr Resistenzen entstehen, desto grösser wird die Gefahr, dass kein Mittel mehr gegen eine Infektion hilft. "Das ist, wovor wir Angst haben", sagt Jan Liese vom Universitätsklinikum Tübingen. "Wenn eines Tages selbst Reserveantibiotika nicht mehr wirken, dann sieht es wirklich ganz düster aus. Dann kann man nur noch auf die Selbstheilungskräfte des Patienten hoffen."

Am Universitätsklinikum Tübingen sei bereits eine Zunahme von Infektionen zu beobachten, die nur noch schlecht oder gar nicht mehr mit Antibiotika behandelt werden können. Noch seien die Zahlen vergleichsweise gering, doch laut einer 2018 veröffentlichten Studie des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sterben in Deutschland schon heute rund 2.400 Menschen pro Jahr an einer Infektion durch multiresistente Erreger. Wenn sich nichts Einschneidendes ändere, so befürchtet die WHO, werden die Todeszahlen bis 2050 weltweit auf zehn Millionen jährlich ansteigen.

Um das Szenario eines postantibiotischen Zeitalters abzuwenden, sei neben der Verringerung des Antibiotika-Verbrauchs auch Infektionsprävention ein wichtiger Schlüssel, sagt Jan Liese, denn resistente Erreger breiten sich aus. Es sei immer nur eine Frage der Zeit, bis bestimmte Erreger auch bei uns ankommen. "Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, auch wenn sie schleichender verläuft als etwa Corona." Jede Infektion, die verhindert wird, muss auch nicht behandelt werden - – das senkt automatisch den Einsatz von Antibiotika.

Bei der Forschung nach neuen Antibiotika hakt es

Um die durch Resistenzen wegfallenden Mittel zu kompensieren, werden dringend neue Antibiotika benötigt - doch bei der Forschung hakt es. In den vergangenen zehn Jahren kamen nur rund 15 neue Antibiotika auf den Markt, sagt Professor Brönstrup. Das sei eine geringe Zahl verglichen mit Medikamenten für andere Krankheitsgebiete. "Wenn wir mit der derzeitigen Geschwindigkeit weitermachen, dann wird es mittel- bis langfristig zu einer Katastrophe kommen."

Professor Brönstrup sieht in den vergangenen Jahren eine leichte Trendumkehr, die Zahl neuer Antibiotika ist in den vergangenen zehn Jahren wieder etwas gestiegen. Bei diesen neu erschienenen Antibiotika handele es sich jedoch grösstenteils um Abwandlungen bereits bekannter Mittel. "Man macht praktisch aus einem Golf 6 einen Golf 7, aber am Ende ist es immer noch ein Golf", sagt Professor Brönstrup. "Dauerhaft entkommen diese den bekannten Resistenzmechanismen nicht."

Vielversprechender sei es, neue Ansätze zu verfolgen. "Wir brauchen ganz neue Mechanismen und Stoffklassen im Kampf gegen Infektionskrankheiten." Zwar gibt es an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen wie etwa dem Helmholtz Zentrum Ansätze für neue Wirkstoffe, doch es fehlt häufig an Partnern, die die Medikamente durch die kostspieligen klinischen Studien zur Marktreife bringen. Das letzte zugelassene Antibiotikum, das auf einem neuen Wirkprinzip basiert, wurde bereits in den 1980er-Jahren entdeckt.

Das liegt auch daran, dass sich die meisten grossen Pharmakonzerne mittlerweile aus der Entwicklung neuer Antibiotika zurückgezogen haben. "Antibiotika lohnen sich für Pharmaunternehmen einfach nicht", sagt Professor Brönstrup. Ob es ein Medikament tatsächlich durch die Studien bis zur Zulassung schafft, ist keineswegs sicher. "Die Umsätze deckten die Kosten für die Produktion und den Vertrieb des Medikaments nicht, von den Entwicklungskosten ganz zu schweigen."

"Netflix-Model" gegen globales Marktversagen bei Antibiotika

Eine Lösung für das globale Marktversagen im Kampf gegen Infektionskrankheiten sieht Professor Brönstrup in speziellen Anreizmodellen für Pharmakonzerne. "Man muss sich global Gedanken machen, wie man vom gängigen Marktmechanismus 'je mehr ich verkaufe, desto mehr verdiene ich' wegkommt."

Als Beispiel nennt Brönstrup das sogenannte "Netflix-Model": Ein Staat kauft eine Art Medikamenten-Abo bei einem Pharmaunternehmen und kann das Medikament danach beliebig oft verwenden. Das böte den Pharmaunternehmen eine finanzielle Sicherheit, unabhängig von der verkauften Stückzahl. "Wenn das gelingt, bin ich guter Dinge", sagt Brönstrup. Immer häufiger gebe es auch sogenannte public-private partnerships, in denen mehrere Partner aus öffentlich und privater Hand gemeinsam an einem Forschungsprojekt arbeiten.

Wichtig seien vor allem langfristige Investitionen in die Erforschung neuer Ansätze. "Das ist ein Wagnis. Dafür wird Zeit benötigt, das sind keine kurzfristigen Programme", sagt Brönstrup. "Aber das wird sich auszahlen."

Was Sie selbst gegen das Fortschreiten von Antibiotika-Resistenzen tun können

  • Nehmen Sie Antibiotika immer nur nach Rücksprache mit einem Arzt oder einer Ärztin.
  • Nehmen Sie Antibiotika unbedingt so lange ein, wie es Ihnen ärztlich verordnet wurde, und setzen Sie es niemals ohne Rücksprache ab. Dasselbe gilt auch für Haustiere.
  • Halten Sie die vorgeschriebenen Einnahmezeiten ein.
  • Entsorgen Sie übriggebliebene Antibiotika niemals über die Toilette, sondern im Hausmüll. Auch Apotheken nehmen alte Medikamente entgegen.
  • Wenn Sie krank sind, halten Sie Hygiene und vermeiden Sie unnötige soziale Kontakte – je weniger Menschen erkranken, desto weniger Antibiotika kommen zum Einsatz.
  • Meiden Sie tierische Produkte, die aus Massentierhaltungen stammen.
Über die Experten:
Prof. Dr. Mark Brönstrup ist Leiter der Abteilung für Chemische Biologie am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung und hält eine Professur an der Leibniz-Universität Hannover. Zuvor arbeitete er 14 Jahre in der Pharmabranche.
Dr. Jan Liese ist Oberarzt am Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene am Universitätsklinikum Tübingen und leitet die Sektion Krankenhaushygiene und Infektionsprävention.

Verwendete Quellen:

  • rki.de: Antibiotikaresistenzen
  • rki.de: Grundwissen Antibiotika­resistenz
  • wido.de: Jedes zweite verordnete Antibiotikum ist ein Reservemedikament
  • dzif.de: Reserveantibiotikum
  • dzif.de: Wenn Antibiotika versagen: Neues Gen für Antibiotika-Resistenz auch in Deutschland nachgewiesen
  • who.int: WHO access, watch, reserve, classification of antibiotics for evaluation and monitoring of use
  • list.essentialmeds.org: Antibiotics groups
  • aok-bv.de: Jedes zweite verordnete Antibiotikum ist ein Reservemedikament
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