Am 22. Juli 2016 tötete ein Rechtsextremist neun Menschen am Olympia-Einkaufszentrum in München. Neun Jahre später kämpfen die Angehörigen noch immer mit ihrer Trauer und fordern vollständige Aufklärung. Die Familien fühlen sich von Behörden und Politik im Stich gelassen.
Armela, Can, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk und Sevda – das sind die Namen der neun Menschen, die am 22. Juli 2016 beim Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München ihr Leben verloren.
Neun Jahre später findet heute vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München eine Gedenkveranstaltung statt – organisiert von der Initiative "München OEZ Erinnern", in der sich die betroffenen Familien gemeinsam mit Überlebenden und Aktivisten engagieren. Der Schmerz bei den Hinterbliebenen ist noch immer präsent, ebenso wie viele unbeantwortete Fragen.
"Unsere Kinder verdienen Erinnerung. Sie verdienen diese Würde", sagt Sibel Leyla, die Mutter des damals 14-jährigen Can, laut "Süddeutscher Zeitung" (SZ). Die Familien kämpfen nicht nur mit ihrer Trauer, sondern auch um die richtige Einordnung der Tat und um Aufklärung.
Der Anschlag: Rechtsextremistisches Motiv wurde lange ignoriert
Am 22. Juli 2016 erschoss ein 18-jähriger Täter neun Menschen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Die Opfer waren zwischen 14 und 45 Jahre alt und hatten alle einen Migrationshintergrund – sie hatten Bezüge in die Türkei, nach Griechenland und in den Kosovo oder kamen aus Sinti-Familien.
Der Täter, selbst Kind iranischer Einwanderer, verstand sich als "Arier" und verbreitete in Online-Foren rechtsextreme, rassistische und antisemitische Inhalte. Wie die "SZ" berichtet, hatte er seine Tat als "Operation Münchencleaning" bezeichnet und sich monatelang darauf vorbereitet. Die Waffe besorgte er sich im Darknet bei einem rechtsextremen Waffenhändler, dem er laut Recherchen mitteilte, dass er "ein paar Kanaken abknallen" wolle.
Dennoch dauerte es drei Jahre und drei Monate, bis das bayerische Landeskriminalamt die Tat offiziell als rechtsextremistisch einstufte. Für die Angehörigen ein unbegreiflicher Vorgang.
Familie Leyla: "Can ist ein Teil der Geschichte der Bundesrepublik geworden"
Hasan und Sibel Leyla haben ihren 14-jährigen Sohn Can bei dem Anschlag verloren. "Can war ein lebensfroher, hilfsbereiter Junge. Unser Jüngster, unser Maskottchen", beschreibt Vater Hasan in der "SZ" seinen Sohn. "Er war begabt im Fussballspielen, hat eine Sportschule besucht."
Die Familie Leyla kämpft seit neun Jahren darum, dass der Anschlag als das anerkannt wird, was er ihrer Überzeugung nach war: ein rechtsextremistischer Terrorakt. "Wenn man die Menschen auf der Strasse spontan nach dem Anschlag vom 22. Juli 2016 fragt, dann sagen die meisten heute noch: Das war ein Amoklauf", berichtet Hasan Leyla.
Sibel Leyla ergänzt: "Wir Familien haben den Schmerz und die Trauer zurückgestellt, um diese Gesellschaft aufzuwecken." Die Familie fordert eine Untersuchungskommission und ein forensisches Gutachten, um offene Fragen zu klären – etwa nach möglichen Mitwissern des Täters.
Familie Kılıç: "Wir haben gespürt, dass wir Ausländer sind"
Besonders erschütternd ist der Bericht der Familie Kılıç, deren 15-jähriger Sohn Selçuk bei dem Anschlag starb. Die Eltern Yasemin und Engin Kılıç beschreiben im Gespräch mit der "SZ", wie sie in den Stunden nach der Tat von den Behörden behandelt wurden.
Als Engin Kılıç zum Tatort eilte und nach seinem Sohn suchte, wurde er von Polizisten zu Boden gedrückt und in Handschellen gelegt – angeblich, weil man ihn für den Täter gehalten habe. "Ich frage mich bis heute: Wie konnte ich überhaupt so weit durchkommen, so kurz nach dem Anschlag?", wird er in dem Bericht zitiert.
Die Familie erhielt zunächst nur eine Hotline-Nummer und wurde später zu Fuss zu einem Zelt geführt, wo man ihnen schliesslich mitteilte, dass ihr Sohn tot sei. "Keine Begleitung. Keine Hilfe. Keine Worte, die uns aufgefangen hätten", erinnert sich Engin Kılıç.
"Wir haben in der Zeit nach dem Anschlag gespürt, dass wir Ausländer sind", fasst er seine Erfahrung zusammen. "Nach dem Attentat habe ich den deutschen Pass beantragt – in der Hoffnung, mehr Rechte zu haben. Doch ich bin Ausländer geblieben."
Familie Daitzik: Ungereimtheiten und Zweifel
Souleiman Daitzik, Vater des 17-jährigen Hüseyin, berichtet von Ungereimtheiten, die die Familie bis heute beschäftigen. "Es passt nicht zu unserem Verständnis von Demokratie, dass die Polizei uns erst nach vier Tagen erlaubte, unseren toten Sohn zu sehen", sagt er der "SZ".
Besonders quälend für die Familie: Sie erhielten zwei verschiedene Sterbeurkunden – in einer stand, Hüseyin sei vor Ort im OEZ gestorben, in der anderen, dass er im Krankenhaus verstorben sei. Als sie das Krankenhaus aufsuchten, fanden sie dort keine Aufzeichnungen über den Tod ihres Sohnes. "Uns quält die Frage: Hätte unser Sohn gerettet werden können?", sagt Daitzik.
Das Bayerische Landeskriminalamt erklärte auf Anfrage der Zeitung, dass Hüseyin unter Reanimationsversuchen in ein Münchner Klinikum gebracht wurde, wo sein Tod festgestellt wurde.
Leben mit der Trauer und der Angst
Die psychischen Folgen des Anschlags belasten die Familien bis heute schwer. "Was wir tun, ist kein Leben. Wir müssen weiteratmen, weiterleben kann man das nicht nennen", beschreibt Engin Kılıç seinen Zustand. "Wir atmen weiter – für unsere Kinder. Aber die ständige Angst, das ist kein Leben."
Yasemin Kılıç berichtet, dass sie ihre beiden verbliebenen Söhne kaum noch allein lassen möchte: "Wenn ich sie zum Thaiboxen gefahren habe, habe ich im Auto gewartet. Wir haben unsere Handys so eingerichtet, dass wir immer wissen, wo sie sind."
Auch Souleiman Daitzik spricht von psychischen Folgen: "Nach so einem Erlebnis ist die Psyche eine völlig andere. Wir alle hatten nach dem Anschlag psychische Abstürze. Man entwickelt Ängste und Wut. Man wird empfindsamer, verletzlicher."
Gemeinsamer Kampf für Aufklärung
Die Familien haben sich in der Initiative "München OEZ Erinnern" zusammengeschlossen und sind Teil eines grösseren Netzwerks. "Mittlerweile sind wir Teil eines grossen Netzwerks aus 25 Initiativen von Opfern rechtsextremen Terrors in Deutschland", berichtet Sibel Leyla.
Sie fordern einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss und ein forensisches Gutachten. Besonders beschäftigt sie die Frage nach möglichen Mitwissern und dem rechtsextremen Netzwerk des Täters, der sich in der Gruppe "Anti-Refugee-Club" auf der Gaming-Plattform Steam mit anderen Rechtsextremen vernetzt hatte.
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"Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht sicher in Deutschland. Darauf wollen wir aufmerksam machen", sagt Souleiman Daitzik gegenüber der "SZ". "Wir sind hergekommen, um zu leben. Nicht, um zu sterben."
Verwendete Quellen
- Süddeutsche.de: OEZ-Anschlag: Die Angehörigen fordern weiterhin Aufklärung