Vor allem zwischen Mitte der 50er- und 70er-Jahre wurden Millionen von Kindern in "Kur" geschickt. Oft kamen die Verschickungskinder traumatisiert zurück und hatten grausame Erziehungsmethoden erfahren. In diesem Jahr hat eine neue Studie untersucht, wie es dazu kommen konnte.
Sie berichten davon, den Mund zugeklebt bekommen zu haben oder vor der Gruppe als Bettnässer lächerlich gemacht worden zu sein. Sie haben Erinnerungen daran, zum Aufessen gezwungen oder von Ausflügen ausgeschlossen worden zu sein. Auch Ohrfeigen, der Entzug liebgewonnener Spielsachen oder Schilder um den Hals mit der Aufschrift "Vorsicht, ich beisse" haben sich eingebrannt.
Es geht um die sogenannten Verschickungskinder, die vor allem zwischen 1954 und 1973 für Erholungs- und Kuraufenthalte in Kinderheime und Kinderheilstätten geschickt wurden. Die Praxis fand vereinzelt bis in die 1990er-Jahre statt.
Etwa 8 bis 13 Millionen Kinder, meist zwischen 3 und 11 Jahre alt, wurden nach ärztlichen Diagnosen wie beispielsweise Asthma oder Neurodermitis in "Kur" geschickt – mit teils gravierenden Folgen bis heute.
Verschickungskinder: Erinnerungen verfolgen Betroffene
Nicht alle von ihnen haben schlechte Erinnerungen an die rund sechs Wochen, die sie von ihren Eltern getrennt waren. Zahlreiche Menschen aber leiden noch heute unter den grausamen, seelisch verletzenden und rigorosen Erziehungsmethoden, die in den Einrichtungen Anwendung fanden.
Ein Betroffener, der in den 1950er-Jahren im Alter von 5 Jahren zur "Kur" in ein Kinderheim nach Bad Kreuznach kam, schreibt in einem Blog-Beitrag: "Ein Trauma, das mich immer noch beschäftigt." Es habe eine "schier unendliche Kette von Quälereien" gegeben. So sei er etwa gezwungen worden, erbrochenen Fisch zu essen, und nach einem Fluchtversuch angekettet worden.
Lange haben die "Verschickungskinder" wissenschaftlich keine Beachtung gefunden. Erst 2019 hat die selbst betroffene Autorin und Sonderpädagogin Anja Röhl eine Umfrage unter Betroffenen durchgeführt und über 3.300 Fragebögen ausgewertet.
Röhls Forschung dokumentierte unzureichende räumliche und hygienische Verhältnisse, mangelnde Betreuung und schlechte Verpflegung. Betroffene teilten Erfahrungen von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Doch es zeigten sich auch grosse Unterschiede zwischen den Heimen, die beispielsweise an der Nordsee, im Schwarzwald oder im Harz lagen und in Trägerschaft etwa von der Diakonie, dem DRK oder der Caritas waren, nicht in allen gab es die grausamen Praktiken.
Missstände spät erkannt
Durch das Engagement von Röhl war der erste Schritt in Richtung systematische Aufarbeitung gemacht. Noch 2021 aber betonte Sozialpsychologe Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, im "Deutschlandfunk", man stehe erst am Anfang.
Scham und Sprachlosigkeit bei den Betroffenen haben dazu beigetragen, dass die Aufarbeitung erst jetzt stattfindet – der Missbrauch war in den meisten Fällen schlicht nicht bekannt. Gleichzeitig wurden die für das Kindeswohl zuständigen Institutionen kaum hinterfragt – die systematischen Missstände wurden so erst spät erkannt.
Einige Bundesländer gingen voran: 2023 hatte sich zum Beispiel in NRW ein Runder Tisch mit Betroffenen, Ministerien und Trägern gebildet, in Baden-Württemberg gab es eine Projektgruppe zur Aufarbeitung durch das Landesarchiv Baden-Württemberg.
Sie alle zeigen: Die eingangs beschriebenen Vorfälle sowie Schlafzwang, schreckliches Heimweh oder grobe ärztliche Untersuchungen haben ihre Spuren hinterlassen. Auch im Rentenalter werden Betroffene noch von Schlaflosigkeit, Depressionen und Verlassenheitsgefühlen geplagt.
Leid der Verschickungskinder offiziell von der Regierung anerkannt
Anfang 2024 hat die Bundesregierung schliesslich offiziell das Leid der Verschickungskinder anerkannt. "Es ist den betroffenen Ressorts ein grosses Anliegen, dass die wichtige Aufarbeitung der von ehemaligen Verschickungskindern berichteten Geschehnisse gewährleistet wird", so die Bundesregierung damals.
Die Ressorts, darunter das Familienministerium und das Gesundheitsministerium, seien in einem Fachaustausch mit dem Verein "Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.". Wiedergutmachungen durch Therapiefonds oder psychosoziale Angebote gibt es bislang allerdings noch nicht.
Neue Studie im Jahr 2025 enthüllt Anknüpfung an NS-Praktiken
Nun könnte noch einmal neue Bewegung in das Thema kommen: Im Mai dieses Jahres haben die Deutsche Rentenversicherung, der Caritasverband, die Diakonie und das DRK einen Forschungsbericht zu den ehemaligen Kinderkurheimen veröffentlicht.
Ein Forscherteam der Humboldt-Universität zu Berlin hat dafür über 2.000 Kureinrichtungen ermittelt, sich zwei Jahre lang durch Archivgut und zeitgenössische Fachliteratur gearbeitet und Interviews mit Zeitzeugen geführt.
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Beschäftigt haben sich die Forschenden vor allem mit der Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Antworten finden sie in der Unterfinanzierung und der Personalknappheit, aber auch der unzulänglichen Heimaufsicht und fehlenden Sanktionen. In ihrer Arbeit zeigen sie auch die Kontinuitäten zu 1945, denn mit den Praktiken wurde an die NS-Kinderlandverschickung angeknüpft.
Damals schickte man Kinder während des Kriegs aufs Land, um sie zu schützen. Allerdings sollten Kinder auch im Sinne des Nationalsozialismus umerzogen werden. Die dabei angewandten autoritären Praktiken wurden mit Kriegsende jedoch nicht begraben – auch später litten die Verschickungskinder unter der "schwarzen Pädagogik".
Verwendete Quellen
- verschickungsheime.de: Anja Röhl – Verschickungskind
- deutschlandfunkkultur.de: Aufarbeitung steht noch am Anfang
- landesarchiv-bw.de: Albtraum statt Erholung – Landesarchiv legt Ergebnisse zur Kinderverschickung vor
- drk.de: Wissenschaftliche Studie zu Kinderkurheimen
- bundestag.de: Das Leid der Verschickungskinder im Blick