Kinderbilder im Netz sind keine süssen Erinnerungen, sondern Grenzüberschreitungen. Wer sie öffentlich teilt, stellt nicht seine Liebe aus, sondern riskiert Missbrauch, Kontrollverlust und spätere Konflikte. Denn Kinder sind kein Content – und sie haben ein Recht auf Schutz und Privatsphäre.
Man mag kaum glauben, dass man es immer noch erklären muss, aber: Kinderfotos im Netz sind keine gute Idee.
Trotzdem werden Tag für Tag Millionen davon gepostet – auf Instagram, im WhatsApp-Status. Eltern denken, sie zeigen nur ihren Stolz und ihre Liebe. Tatsächlich zeigen sie aber vor allem eins: dass ihnen ihre eigenen Bedürfnisse wichtiger sind als die Rechte und das Wohlbefinden ihres Kindes.
Kommentare aus der Hölle
Erlauben Sie mir zunächst einen kleinen Exkurs. Kennen Sie "Hobby Horsing"? Falls nicht, gerne mal googeln, es macht gute Laune. Denn bei dieser Sportart mit Gymnastikelementen hüpfen meist junge Leute auf Steckenpferden über einen Parcours oder stellen Dressurreiten nach. Also ohne Pferd, dafür aber mit einem Stock mit Pferdekopf. Mir geht es nicht darum, das zu verlachen, im Gegenteil: Ich bin der Meinung, dass jeder glücklich werden kann, wie er mag. Manche Internetkommentatoren sollten mal ein Steckenpferd kaufen und durch den Garten galoppieren, um den Kopf frei zu kriegen.
Denn eigentlich geht es mir hier um was anderes: Ich bin über eine TikTokerin gestolpert, die Kommentare unter Hobby-Horsing-Videos vorstellte. Unter Videos, die Kinder und Jugendliche zwischen vielleicht 10 bis 14 Jahren zeigen. Die meisten von alten Männern. Die Kommentare waren zum Kotzen: sexuelle Anspielungen, ekelhafte Avancen, vulgäre Fantasien.
Das ist unsere digitale Realität: Das Internet ist voll von Typen (es sind meist Typen) mit kranken Gedanken. Ich weiss, keine Überraschung. Aber für manche vielleicht schon – wenn man sich so anschaut, was manche Eltern posten.
Das süsse, kleine Content-Baby
Folgende Szenen sind Normalität: Eine Influencerin in Pastellfarben säuselt in unerträglichem Singsang und mit aufgesetztem Lächeln in die Kamera: "Guuuuten Mooorgen, meine Lieben, wir hatten eine sooo unruhige Nacht, aber schaut mal, wie süss er trotzdem guckt." Das Baby wird hochgehalten, gähnt, und 30.000 wildfremde Menschen wissen jetzt, wie ihr müdes Baby aussieht. Dass das keine private Aufnahme mehr ist, sondern Geschäft, ist nur ein Teil des bewussten Menschenhandels.
Das Kind wird zur Requisite, zum Werbeträger, zum Klickgaranten. "Schaut mal, die neue Bio-Windel hält dicht, obwohl der Kleine die halbe Nacht gespuckt hat" – die Fremdscham kann man nur noch mit Gummihandschuhen anfassen. Eine solche Zurschaustellung kann sich nur leisten, wem die digitale Weiterverarbeitung nicht bewusst ist – oder eben egal.
Von der Ausnahme zur Normalität
Man könnte meinen, das sei ein Extremfall und man kann nach dem kurzen Influencer-Bashing zum Tagesgeschäft übergehen. Aber so einfach ist es nicht. Auch abseits der Influencer-Industrie hat sich längst eine Normalität eingeschlichen. Eltern posten Urlaubsbilder, den ersten Schultag, das Spaghetti-Gesicht, den Pyjama mit Dinosauriern.
Und ja, man versteht es ja: Freunde und Familie sollen schliesslich auch sehen, wie gross die Enkelin schon ist. Nur: Wessen Bedürfnis wird hier eigentlich gestillt? Das des Kindes, das weder nach Likes noch nach lachenden Emojis verlangt? Oder das Bedürfnis der Eltern, Anerkennung, Herzchen und ein bisschen digitale Bestätigung abzugreifen?
Jetzt muss ich ihn doch sagen, diesen Satz, den schon vor 15 Jahren Studienräte ihren Klassen gesagt haben: Das Netz vergisst nie. Wie gerne hätten wir damals gesagt: Ok, Boomer, aber möglicherweise hilft mir das auch weiter, wenn ich meine Digitalkarriere starte. So schnell wird man älter, weiser und pessimistischer: Denn was heute das "süsse" Bild in der Badewanne ist, kann morgen Mobbing-Material sein.
Nicht nur Fremde, auch Bekannte
Und Bilder verschwinden auch nicht einfach aus dem Netz, wenn man sie löscht. Ein Screenshot reicht – und das Foto lebt weiter. Und landet nicht selten dort, wo man es am allerwenigsten haben will: in den digitalen Schattenzonen, im Darknet, in Foren. Harmlos gemeinte Alltagsbilder werden missbraucht, sexualisiert, gehandelt. Und nein, das ist kein Alarmismus, das kann man nachlesen.
Die Täter sitzen aber nicht nur im anonymen Netz. Wie der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger betont, findet sexualisierte Gewalt oft im Nahbereich statt – unter Freunden, Verwandten, Kollegen. Sprich: Auch WhatsApp-Statusbilder, die "ja nur meine Kontakte sehen", sind nicht sicher. Der Handwerker, der einmal die Spülmaschine repariert hat, freut sich vielleicht gerade über das Bild Ihres Kindes beim Fussball.
Eine Frage von Respekt
Und selbst wenn es nicht zum Missbrauch der Bilder kommt – was ist, wenn das Kind später wissen will, warum Bilder von ihm den gesamten Bekanntenkreis oder sogar das gesamte Internet belustigt haben.
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Das Ganze ist nämlich nicht nur eine Frage von Sicherheit, sondern auch von Respekt. Kinder haben Persönlichkeitsrechte. Sie haben ein Recht darauf, nicht unfreiwillig zur Marke gemacht zu werden. Oder zum Meme. Oder zu Schlimmerem. Und trotzdem stellen Eltern ihre eigenen Bedürfnisse oft über die ihrer Kinder. Aber Kinder sind keine Accessoires und kein Content – sondern Menschen, die Rechte haben.
Es gibt keinen einzigen guten Grund, ein Kinderfoto ins Netz zu stellen. Nicht für Likes, nicht für die Oma in Buxtehude, nicht für die Kollegen. Wenn jemand wirklich Interesse hat, gibt es immer noch das gute alte Fotoalbum. Funktioniert seit Jahrzehnten, auch ohne Darknet-Anschluss und Zukunftsfamiliensprengungskonfliktpotenzial. Oder um es einmal deutlich zu sagen: Wer sein Kind online stellt, stellt es aus.
Über den Autor
- Bob Blume ist Buchautor, Content Creator und Bildungsaktivist. Auf Instagram hat er als @netzlehrer 200.000 Follower. Er ist Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule und Bildung und wurde bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 als Blogger des Jahres ausgezeichnet. Für die Newsportale von 1&1 schreibt er über Phänomene im Netz.