Im Gazastreifen ist die humanitäre Lage nach wie vor katastrophal, obwohl Israel die Blockade für Hilfslieferungen gelockert hat. Hilfsorganisationen berichten von unzureichenden Mengen an Lebensmitteln und medizinischen Gütern, während die Bevölkerung unter Hunger und Verzweiflung leidet.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Dominik Bardow sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es geht voran im Gazastreifen – könnte man meinen. "Erste Hilfsgüter erreichen Bewohner Gazas", so lauteten Schlagzeilen, nachdem Israel die Blockade für Lieferungen in das Kriegsgebiet gelockert hatte. Es gab Bilder entladener Lastwagen und hungernder Palästinenser, die Schüsseln mit Mehl füllten. Wer mit Hilfsorganisationen spricht, erhält ein anderes Bild: das einer akuten humanitären Krise.

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"Die Hilfslieferungen sind nicht so einfach, wie es scheint", sagt Anica Heinlein, Abteilungsleiterin Advocacy bei CARE Deutschland. Die internationale Hilfsorganisation liefert seit 1948 Güter ins umkämpfte Küstengebiet: die bekannten CARE-Pakete, die es auch in Deutschland gab. Es kämen unter 100 LKW pro Tag nach Gaza, berichtet sie. "Es kommt wenig an, die Menschen hungern immer noch und sind verzweifelt." Am Freitag seien es laut Israels Angaben 107 LKW gewesen.

Israels Blockade und ihre Folgen

Israel hatte ab März eine strikte Blockade des von seiner Armee belagerten Gebietes verhängt. Dies führte zu Preiserhöhungen und Hunger. Ab 20. Mai liess das Land auf internationalen Druck wieder Hilfslieferungen zu. Doch sind die Mengen unzureichend: Mindestens 450 beladene LKW pro Tag seien nötig, um die wichtigsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken, schätzt Heinlein, eher 600.

"Sauberes Wasser und Diesel für Bäckereien, um aus Mehl Brot zu backen, fehlen dort überall", sagt Heinlein, die seit über 25 Jahren in Israel und Palästina aktiv ist. Auch Spezialnahrung wie Milchpulver für Säuglinge fehle, Medikamente jeder Art, wie Betäubungsmittel für Operationen: "Es gibt de facto nichts mehr in Gaza. Medizinische Einrichtungen haben kaum noch Material."

Decken als Waffe? Die Realität vor Ort

Heinlein telefoniert mit CARE-Mitarbeitern vor Ort, die nicht durchgelassen werden. "Es gibt derzeit nur einen geöffneten Übergang von Israel nach Gaza, die Lkws stecken oft in Sicherheitskontrollen fest." Sie würden bis auf das letzte Paket geprüft, erst wenn sie eine Freigabe bekommen, dürfen sie weiterfahren. Das könne dauern. Wenn nur ein Artikel beanstandet wird, muss der LKW umkehren.

"Wir hatten in der Vergangenheit Fälle, in denen Decken zurückgeschickt wurden, weil sie die falsche Farbe hatten", als Begründung werde die Einstufung "Dual Use" genannt. Also die Sorge, dass Materialien auch für militärische Zwecke verwendet werden könnten. Israels Armee sorgt sich zudem, dass die von ihr bekämpfte Terrorgruppe Hamas Hilfsgüter stehlen und auf dem lSchwarzmarkt verkaufen könnte. Israels Regierung argumentiert, die Hamas sei für die humanitäre Krise mitverantwortlich, da sie Ressourcen immer wieder für militärische Zwecke missbrauche.

Kommen die Lieferungen bei Hilfebedürftigen an – oder der Hamas?

Derzeit führt Israel eine militärische Offensive in Gaza durch, mit dem Ziel, die Kontrolle über das gesamte Territorium zu erlangen und von der Hamas im Oktober 2023 entführte Geiseln zu befreien. Die Vereinten Nationen (UN) bestreiten, dass Hilfsgütern abgezweigt würden. Auch Heinlein kann es nicht bestätigen. "Während der Waffenruhe von Januar bis März können wir keinerlei Plünderungen bestätigen." Völkerrechtlich wäre Israel verpflichtet, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu versorgen, argumentiert bei Blockaden immer wieder mit Sicherheitsbedenken.

Dass humanitäre Hilfe auch bei Notleidenden ankomme, stelle CARE demnach durch ausgefeilte Mechanismen sicher. Man nutze eigene wie lokale Mitarbeiter von Partnerorganisationen, melde Transporte und Verteilungen an, erhalte aber keine Genehmigungen. "Wir werden gehindert, unsere Arbeit zu machen. Die Situation ist kritisch, die Menschen brauchen Hilfe", sagt Heinlein.

Vertreibung der Palästinenser oder Hunger als Waffe?

Die 2,2 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens wissen laut CARE-Angaben schon jetzt nicht mehr, wie sie sich sicher ernähren sollen. Sie litten Hunger, Kinder seien besonders gefährdet. Ein grosser Teil der Hilfsgüter stammt dabei von privaten Spendern und Organisationen, die nicht am UN-Verteilmechanismus teilnehmen. Deren Lieferungen gelangen ebenfalls derzeit nicht hinein.

Israel wirft der Hamas immer wieder vor, Hunger der Bevölkerung als Waffe einzusetzen, für mehr Öffnung und Lieferungen ins Land. Ob Hilfe bewusst behindert werde, um Palästinenser zu zermürben oder zu vertreiben, darüber will Heinlein nicht spekulieren.

"Fakt ist, dass es im Moment ohnehin keinen Weg raus aus dem Gazastreifen gibt", sagt Heinlein. Seit Oktober 2023 ist der Konflikt in der Region eskaliert, als die militant-islamistische Gruppe Hamas einen blutigen Angriff auf Israel startete, was zu massiven militärischen Reaktionen führte. Internationale Bemühungen um einen erneuten Waffenstillstand sind bisher weitgehend erfolglos.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern um Land und Religion schwelt seit Jahrzehnten und eskaliert immer wieder, vor allem in dem Landstrich von Gaza, wo die Hamas das Sagen hat.

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Neuer Vorschlag stösst auf Ablehnung

Ein Vorschlag lautet, eine sogenannte "Gaza Humanitarian Foundation" (GHF), solle die Verteilung von Hilfsgütern künftig neu organisieren, über wenige Logistikzentren direkt an die Bevölkerung."Die Gemeinschaft der Hilfsorganisationen lehnt die Verteilung von Hilfe durch die GHF ab", sagt Heinlein, diese Art der Güterverteilung folge nicht Prinzipien und Regularien humanitärer Hilfe.

Hilfslieferungen über Flugzeugabwürfe oder über den Seeweg hält sie für verzweifelte Massnahmen."Es gibt genug Strassen und Wege nach Gaza, auch im Kriegsfall, man muss sie nur freigeben", sagt Heinlein, die von der internationalen Gemeinschaft fordert, den Druck nach mehr Hilfe hochzuhalten. Letztlich könne die schlechte Versorgungslage auch den festgehaltenen Geiseln schaden.

"Es ist unsäglich, dass diese Geiseln immer noch Geiseln sind", sagt Heinlein. Und es sei eine menschengemachte Katastrophe. "Es hängt rein vom Willen ab, Güter in das Gebiet zu lassen." Daher müssten Regierungen nun Druck ausüben, "die Menschen vor Ort haben keine Zeit".

Zur Expertin:

  • Anica Heinlein ist Co-Abteilungsleiterin Kommunikation und Advocacy bei CARE Deutschland, leitet das Büro Berlin, ist seit über 25 Jahren in Israel und Palästina aktiv und lebte in Jerusalem. CARE ist eine Hilfsorrganisation, die seit 1945 Armut weltweit bekämpft und Nothilfe bereitstellt.