Die israelische Luftabwehr gilt als eine der besten der Welt – doch die iranischen Raketen vermögen derzeit deutlich mehr Zerstörung anzurichten, als jene von Hamas und Hisbollah. Woran liegt das? Und an welchem Punkt könnte Israel an seine Grenzen kommen?
Die militärischen Attacken zwischen dem Iran und Israel reissen nicht ab: Nach dem israelischen Präventivschlag überzieht der Iran das Land mit Raketenangriffen – mit teils verheerendem Ausmass. Im Interview unserer Redaktion sagt Politikwissenschaftler Simon Wolfgang Fuchs, warum mehr iranische Raketen den Iron Dome durchdringen – und welche Frage entscheidend sein wird.
Wenn es um Angriffe auf Israel geht, steht die israelische Luftabwehr immer wieder im Fokus. Was macht sie so besonders?
Der israelische Raketenabwehrschutzschirm besteht aus verschiedenen Schichten. Der "Iron Dome" (auf Deutsch "Eiserne Kuppel", Anm.d.Red.) ist der bekannteste und war viel im Einsatz, was den Gazastreifen anbelangt. Er fängt Raketen und andere Geschosse ab, die aus relativ kurzer Reichweite abgeschossen werden. Die Schicht darüber heisst "David's Sling" (auf Deutsche "Davids Schleuder", Anm.d.Red.) und zielt eher auf Flugzeuge, Marschflugkörper oder Drohnen. Ganz darüber befinden sich die Arrow-Systeme, die jetzt gerade stark bei den Angriffen aus dem Iran zum Einsatz kommen. Sie können Raketen schon über eine Reichweite von rund zweitausend Kilometern Reichweite abfangen.
Die israelische Luftabwehr und der Iron Dome im Speziellen gelten als mit die besten Raketenabwehrsysteme der Welt. Zu Recht oder wird das System überschätzt?
Aus meiner Sicht zu Recht. Vor den iranischen Angriffswellen gab es in Israel fast jeden Tag Luftalarm, ausgelöst durch Angriffe von den Huthis im Jemen. Da ist es so gewesen, dass die Israelis den Luftalarm gar nicht mehr so ernst genommen haben, sondern ihn eher als Empfehlung angesehen haben – weil sie so sehr in das Abwehrsystem vertrauen und davon ausgegangen sind, dass sowieso keine Raketen durchkommen. Das ist jetzt definitiv anders.
Iran: Vier Angriffswellen in einer Nacht
Warum?
Die Israelis wissen: Es ist eben auch eine statistische Frage. Wenn man von einer Abfangwahrscheinlichkeit von 80 oder 90 Prozent ausgeht, wir es aber mit sehr vielen Angriffswellen zu tun haben, dann kommen insgesamt einfach mehr Raketen durch. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Bei den Angriffen im April und im Oktober letzten Jahres hat der Iran insgesamt 300 ballistische Raketen abgefeuert. Diese Zahl haben wir jetzt schon erreicht.
Und es geht immer noch weiter...
Genau, wir haben jetzt allein vier Angriffswellen erlebt, das verdeutlicht die Dramatik der Lage. Dass der Abwehrschirm durchlässiger ist, hat vor allem mit der Masse an Raketen zu tun. Aber nicht nur.
Welchen Grund gibt es noch?
Es hat auch damit zu tun, dass Iran sehr viel in seine Raketen investiert hat und diese Raketen sehr schnell sind. Der Iran nimmt für sich in Anspruch, dass man Hyperschallgeschwindigkeit erreicht hat. Es sind in jedem Fall ganz andere Geschosse, als die Hisbollah sie aus dem Libanon oder die Hamas aus dem Gazastreifen abgeschossen haben. Da die iranischen Raketen so schnell sind, bleiben nur wenige Minuten, sie abzufangen.
Bringen die iranischen Raketen deshalb auch so viel mehr Zerstörung, als es die Angriffe von Hamas und Hisbollah vermochten?
Die iranischen Raketen haben viel gewichtigere Gefechtsköpfe, nämlich zwischen 500 und 750 Kilogramm. Wenn sie durchkommen, haben sie eine enorme Zerstörungskraft. Das Küstengebiet ist ungemein dicht besiedelt, südlich und nördlich von Tel Aviv ist eigentlich alles bebaut. Das machen sich die iranischen Angreifer gerade zu Nutze.
Könnte Israel an den Punkt der Überforderung geraten?
Das hatte der Iran ursprünglich vor. Soweit wir wissen, wollte der Iran versuchen, die erste Angriffsfälle mit Tausend Raketen auf einmal zu starten, um die israelischen Abwehrsysteme zu überfordern. Dadurch, dass Israel aber schon vorher mit seinen ganzen Geheimdienstoperationen vor Ort war und auch viele Raketenabschussstellungen bereits zerstört oder hier manipuliert hatte, ist es nicht zu dieser Grössenordnung gekommen. Das heisst aber nicht, dass es nicht trotzdem zu einer Überforderung kommen könnte, wenn die Angriffe jetzt noch über einen längeren Zeitraum weitergehen.
"Es wird davon abhängen, wem sozusagen eher die Luft ausgeht."
Wovon hängt das ab?
Die grosse Frage ist, wie viele Raketen Israel noch in der Hinterhand hat, gerade für seine Arrow-Systeme. Das ist natürlich ein gut gehütetes Geheimnis, bei dem es nur viel Spekulation gibt. Es wird davon abhängen, wem sozusagen eher die Luft ausgeht.
Bekommt Israel dabei Unterstützung von Verbündeten?
Das Arrow-System wurde in Zusammenarbeit mit den USA entwickelt. Auch, wenn die USA sich nicht an den Angriffsoperationen gegen den Iran beteiligen, könnte hierher Nachschub kommen. Bei der ersten Welle von iranischen Drohnen haben amerikanischen Flugzeuge, die in Jordanien stationiert sind, beim Abfangen mitgeholfen. Auch jetzt stehen noch zwei amerikanische Abwehrsysteme in Israel bereit. Sie waren bisher aber noch nicht viel im Einsatz und haben auch nicht so einen hohen Abfangerfolg wie die israelischen Systeme. Ausserdem gibt es noch ein auf See stationiertes amerikanisches System.
Könnt es auch finanziell an seine Grenzen geraten?
Davon gehe ich nicht aus. Aber es sind tatsächlich unglaubliche Kosten für Israel. Jede einzelne Arrow-Rakete kostet um die 3,5 Millionen Dollar. Die Verteidigungskosten pro Angriffswelle werden im Moment auf ungefähr 300 Millionen Dollar geschätzt – und davon gibt es teilweise mehrere pro Nacht. Aber Israel ist bereit, diese Kosten zu tragen.
Welche Rolle spielt Deutschland aktuell?
Deutschland hat militärisch recht wenig beizutragen. Aber es ist selbst daran interessiert, sich diese Technologie selbst ins Haus zu holen. Wichtig dabei aber: Man kann solche Systeme natürlich auch in Deutschland installieren, aber damit muss ein ganz generelles Umdenken einhergehen.
Was heisst das?
Wenn man diese Systeme zum Einsatz bringen und wirklich einen Schutz erzielen will, reicht es nicht, diese Systeme einfach zu haben. Es bräuchte dann – so wie in Israel – ein umfassendes System an öffentlichen Schutzräumen, in Häusern und Wohnungen. Es bräuchte ein Training der gesamten Gesellschaft. Das fängt schon im Kindergarten an, wo man sehr diszipliniert übt, wie man sich verhält, sobald Warn-Apps und Sirenen ertönen. Ohne gesamtgesellschaftliche Einbettung ergibt so ein System wenig Sinn.
"Die berühmte israelische Resilienz kommt an ihre Grenzen."
Wie lange hält die israelische Gesellschaft das denn noch durch, ihre Resilienz wird schliesslich immer wieder hervorgehoben?
Ja, viele Israelis leben genau diese Eigenschaft vor. Man macht einfach weiter, kommt aus dem Bunker, geht zum Arbeiten über, versucht nebenbei noch die Kinder zu Hause zu betreuen. Das stimmt alles. Dennoch haben wir jetzt einen Punkt erreicht, an dem sehr viele Israelis das eng besiedelte Küstengebiet verlassen möchten. Die berühmte israelische Resilienz kommt an ihre Grenzen.
Über den Experten
- Dr. Simon Wolfgang Fuchs ist Professor für Islam im Nahen Osten und Südasien an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Der Nahost-Experte arbeitet zum modernen Islam im Nahen Osten, Südasien sowie in globalen Kontexten.