Das zentralasiatische Kasachstan gilt als enger Verbündeter Russlands. Doch die ehemalige Sowjetrepublik sucht zunehmend nach ihrer eigenen Identität – fern der einstigen Kolonialmacht. Vor allem der Ukraine-Krieg treibt diese Entwicklung voran.

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Junge Menschen in Kasachstan kennen seit ihrer Geburt nur zwei Staatsoberhäupter. Nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik 1991 führte Nursultan Nasarbajew das Land mehr als 25 Jahre lang. Unter ihm blieb der zentralasiatische Staat ein enger Verbündeter Russlands.

In dem multiethnischen Land galt Russisch als die Sprache der Gebildeten, der Städter, der interna­tio­nal denkenden Sowjets. In Städten beherrschte kaum noch jemand Kasachisch. Aber in anderen Gebieten blieb es eine weit verbreitete Sprache. Auf Nasarbajews Rücktritt folgte 2019 Kassym-Schomart Tokajew als Präsident.

An dem Machtwechsel zeigt sich aber auch – in dem Land soll es nicht einfach so weitergehen wie bisher. Vielmehr ergründen die Menschen ihre ethnische Zugehörigkeit und wollen sich von alten Mustern lösen – auch vom Einfluss Russlands.

Russland schreckt Kasachstan mit Ukraine-Grossangriff ab

Die Politiksoziologin Diana Kudaibergen begibt sich in ihrem Buch "Was es bedeutet, Kasachstaner zu sein?" auf die Suche, wie sich die Gesellschaft Kasachstans seit 1991 verändert hat. Kasachstaner ist die Bezeichnung für jeden Bürger des zentralasiatischen Staates. Kasache bezeichnet die Ethnie, eine von Hunderten neben Russen, Usbeken, Ukrainer, Uiguren, Tataren und Deutschen.

Kudaibergen lehrt Politik und Gesellschaft in Zentralasien an der University College London. In ihrem Heimatland erkennt sie einen kulturellen Wandel, der sich unter anderem durch die Abnabelung von der ehemaligen Kolonialmacht Russland zeigt. Den russischen Grossangriff auf die Ukraine sieht sie als Katalysator für diesen Prozess.

"Viele Kasachen waren über die russische Grossinvasion schockiert", sagt die Dozentin im Gespräch mit unserer Redaktion. 25 bis 30 Prozent der Kasachen sprachen sich laut ihr damals für die Ukraine aus. Dazu gehören vor allem junge Kasachen, Angehörige der Mittelklasse, aber auch Menschen aus den ärmeren, ländlichen Gebieten.

Die Regierung unter Tokajew machte Russland klar, dass sich Kasachstan nicht an dem Grossangriff auf die Ukraine beteiligen werde. Er duldete Proteste gegen die russische Grossinvasion. Keine Selbstverständlichkeit für den autoritären Staat.

Aus Sicht von Kudaibergen sticht Kasachstan innerhalb Zentralasiens hervor, wenn es um eine pro-ukrainische Einstellung geht. Im Nachbarland Kirgisistan sieht es ihr zufolge anderes aus. Dort unterstützen viele Menschen Russland.

Es brauche mehr Studien, um dieses Phänomen zu erklären, meint die Expertin. Sie geht davon aus, dass der Einsatz russischer Propaganda und die grössere Zahl kirgisischer Migranten, die in Russland arbeiten, eine Rolle spielen könnten.

In Kasachstan zeigt sich die "Abkehr" von Russland auch durch die Sprache. Für ihr Buch hat sie zahlreiche Interviews geführt. Dabei stellte sie fest, dass viele Befragte es bevorzugten, auf Kasachisch mit ihr zu sprechen.

Russisch war gestern: GenZ feiert kasachischen Indie

Gerade in der Musik- und Kunstszene ist Kasachisch angesagt. "Die jungen Leute lernen die Songtexte von kasachischem Indie und singen mit", sagt Kudaibergen. Solch ein Popularitätsschub von kasachischen Liedern wäre zu ihren Teenager-Zeiten vor zwanzig Jahren unvorstellbar gewesen.

Damals wurde Kasachisch vom Russischen aus den Grossstädten verdrängt. Allerdings sprachen auch nach 1991 noch etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung fliessend Kasachisch, betont Kudaibergen. Es galt jedoch als provinziell.

Was früher mit Scham behaftet war, ist heute cool. Die Kasachin erinnert sich daran, dass man sich damals klar mit Russisch oder Kasachisch identifiziert hat. "Gerade bei der GenZ spielt das keine Rolle mehr. Sie feiern die Zweisprachigkeit", führt sie aus.

Die Expertin nennt sie die "Kimdik-Generation". Kimdik ist das kasachische Wort für Identität. Viele von ihnen sprechen Kasachisch, Russisch und auch Englisch. Für Russland ist das dennoch ein Dorn im Auge.

Kasachstan: Sprache schützt vor Putins Desinformation

Denn: "Wer Kasachisch beherrscht, ist oft immun gegen russische Propaganda", sagt Kudaibergen. Den Kasachen falle es etwa leicht, russische Bots zu entlarven. Wenn sie auf Kasachisch schreiben, seien oft viele Fehler enthalten. "Auch das Russisch in Kasachstan ist nicht mit dem in Moskau zu vergleichen", führt sie aus. Es gebe kleine, aber auffallende Unterschiede.

In Kasachstan hat sich laut der Expertin eine regelrechte Kultur entwickelt, um gegen russische Desinformation vorzugehen. Ihr Fazit lautet: "Der Kreml erledigt seine Hausaufgaben nicht und stellt sich unbeholfen an, etwa junge Kasachstaner mit seiner Propaganda zu erreichen."

Der Kreml giesst Öl ins Feuer

Aber natürlich gibt es auch prorussische Stimmen im Land, sagt Kudaibergen. "Gerade ältere Menschen, die hauptsächlich ihre Informationen über russisches Fernsehen beziehen, verfallen Putins Propaganda leicht."

Vor dem Zusammenbruch des Systems bildeten die Russen zwei Drittel der Bevölkerung, die Kasachen waren eine Minderheit im eigenen Land.

Heute ist es andersherum: Laut dem Nationalen Amt für Statistik leben nur noch etwa 15 Prozent ethnische Russen im Land; vor allem im Norden, entlang der russischen Grenze und in Zentralkasachstan. Die Kasachen bilden heute rund 70 Prozent.

Viele Russen seien ausgewandert, aus wirtschaftlichen Gründen oder weil sie sich benachteiligt fühlten. Die, die geblieben sind, fürchten sich teils vor einem aufstrebenden Nationalstolz der Kasachen, der sie unterdrücken könnte. Was laut Kudaibergen nicht stimmt. Aber genau hier giesst der Kreml Öl ins Feuer.

Russland schürt Angst vor "russophoben" Kasachstan

2024 veröffentlichte Russland einen Film, der Kasachstan mit der Ukraine vergleicht. Laut "Radio Azattyq", einer von den USA finanzierten Rundfunkanstalt, wird Kasachstan darin als "zunehmend russophobes Land" bezeichnet. Ein Vorwurf, der auch 2022 im russischen Staatsfernsehen des bekannten Propagandisten Wladimir Solowjow fiel.

Der Politologe Dmitrij Drobnitskij behauptete dort: "Wir sollten darauf achten, dass Kasachstan nicht zum nächsten Problemfall wird, da dort die gleichen Nazi-Entwicklungen wie in der Ukraine beginnen könnten. Und es leben viele Russen dort". Russland begründet seinen Angriffskrieg immer wieder fälschlich damit, die Ukraine sei von Faschisten regiert.

Die ethnischen Russen, mit denen sich Kudaibergen im Norden Kasachstans austauschte, würden derweil darüber klagen, dass sie vom Rest des Landes einen Stempel verpasst bekämen: Die Regionen seien angeblich alle russifiziert und die Bewohner würden sich als Russen sehen.

Die Soziologin warnt vor dieser Stereotypisierung. Sie spiele am Ende dem Kreml in die Hände. Ihrer Erfahrung nach hinterfragen viele ethnische Russen ihre Identität. In Russland seien sie die Kasachen und in Kasachstan die Russen. Am Ende sehen sie sich heute als eine andere Art von Russen, die zu den Kasachstanern dazugehören wollen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Diana Kudaibergen lehrt als politische Soziologin. Bevor sie als Dozentin für Politik und Gesellschaft in Zentralasien an University College London kam, war sie Assistenzprofessorin für politische Soziologie an der Universität Cambridge. Sie hat bereits mehrere Bücher über Kasachstan veröffentlicht.

Verwendete Quellen