Älter werden heisst auch, mitzuerleben, wie die eigenen Eltern altern und zunehmend körperlich und geistig abbauen. Philippa K. (49) aus Bonn erzählt, wie es sich anfühlt, beide Elternteile an Altersdemenz verloren zu haben – und was dieser doppelte Abschied mit ihr gemacht hat.
"Im Januar 2020, kurz vor dem ersten Corona-Lockdown, hatte meine Mutter eine Alzheimer-Diagnose erhalten. Für sie und meinen Vater war das natürlich ein Schock. Dann kamen die Corona-Beschränkungen. Meine jüngere Schwester und ich gaben uns sehr viel Mühe, die Betreuung für meine Mutter schnellstmöglich zu organisieren. Doch die Zeit ohne soziale Kontakte konnten wir nicht ganz abfedern.
Während des Lockdowns sass mein Vater nur zu Hause, kümmerte sich um meine Mutter. Mit uns war er nur über Telefon verbunden. Das tat ihm nicht gut. Durch Corona brachen immer mehr soziale Kontakte weg. Viele alte Bekannte haben sich auch durch die Alzheimererkrankung meiner Mutter zurückgezogen.
Unfähig, Hilfe anzunehmen
Mein Vater war ein sehr kultivierter, gebildeter Mann, der Konversationen brauchte. Aber er war gleichzeitig sehr introvertiert und still. Er war nie in der Lage, um Hilfe zu fragen oder diese anzunehmen. Schliesslich kam einmal am Tag ein Pflegedienst, um meiner Mutter ihre Medikamente zu geben. Selbst das hat mein Vater abgelehnt und nur schwer akzeptiert. Als die Einschränkungen wieder lockerer wurden, fanden wir eine Haushaltshilfe, die super war. Sie erledigte die Einkäufe, putzte und bügelte. Das rettete uns.
Aber eine Alzheimer-Erkrankung geht nur in eine Richtung: abwärts.
Der Zustand meiner Mutter wurde immer schlechter. Wir als Kinder waren ratlos. Dann passierte etwas, was meinen Vater vollkommen traumatisierte. Im Dezember 2022, kurz vor Weihnachten, erlitt meine Mutter eine Hirnblutung. Er fand sie reglos im Bett , die Haushälterin rief den Notarzt.
Patientenverfügung nicht genutzt
Obwohl eine Patientenverfügung vorlag, wurde diese im entscheidenden Moment leider nicht genutzt, sodass unsere Mutter automatisch die neurologische Diagnostik durchlaufen hat. Das Ergebnis war eine regelrechte Krankenhaus-Odyssee. Sie öffneten meiner Mutter den Schädel, operierten sie. Dann wurde sie von einer Klinik in die andere transportiert. Als meine Schwester und ich sie im Krankenhaus besuchen wollten, wusste das Pflegepersonal zunächst nicht, wo sie war. Sie teilten uns später mit, dass sie in ein anderes Krankenhaus verlegt worden war. Wieso man einer Alzheimerkranken diese Tortur auferlegen muss, verstehe ich nicht.
Danach war klar, dass sie nicht mehr nach Hause konnte. Die Versorgung war einfach nicht mehr zu stemmen. Wir fanden einen Kurzzeitpflegeplatz, der sehr schnell zum Langzeitpflegeplatz wurde. Damit kehrte etwas Ruhe ein.
Mein Vater fuhr täglich zu ihr ins Pflegeheim, um ihr Essen zu bringen und sich mit ihr zu unterhalten. Auch meine Schwester und ich kamen oft. Ich brachte ihr Enkelkind, meine damals vierjährige Tochter, mit.
Symptome der Altersdemenz
Damals merkte ich, dass auch mein Vater sich veränderte. Er war nicht mehr so gesprächig. Er war zwar schon immer introvertiert gewesen, aber so ruhig kannte ich ihn nicht. An vier Tagen in der Woche war die Haushälterin da. Sie beruhigte uns immer etwas, meinte, dass es meinem Vater gut ginge. Doch dann traten auch bei ihm die ersten Symptome einer Altersdemenz auf.
Einmal fuhr er zu einem Hautarzt in einem anderen Stadtviertel. Er fand aber die Adresse des Arztes nicht. Als er zurück zu seinem Auto wollte, fand er auch das nicht mehr.
Meine Schwester und ich waren gerade auf der Arbeit. Er fuhr also mit der Haushälterin die Umgebung ab. Erst am nächsten Tag, beim zweiten Versuch, entdeckten sie das Auto. Wenig später verlor er sein Auto zwei Wochen lang. Nur durch einen Zufall – einen Strafzettel für Falschparken – konnten wir es finden.
Von der Autonomie zur Abhängigkeit
Eines Tages bog er in einem Kreisverkehr falsch ab und verfuhr sich komplett, obwohl ihm die Strecke vertraut war. Das war der Punkt, an dem meine Schwester und ich sagten: So geht es nicht weiter, wir müssen ihm das Auto wegnehmen. Wir hätten es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren können, wenn er eines Tages einen Unfall baut und jemand dabei stirbt oder schwer verletzt wird.
Doch wir hatten auch grosse Bedenken. Ihm sein Auto wegzunehmen, war nun mal ein weiterer Schritt von Autonomie hin zu Abhängigkeit. Für einen freiheitsliebenden Menschen wie meinen Vater war das nicht leicht zu akzeptieren. Meine Schwester hatte vor allem eine Sorge: "Wenn wir ihm das Auto wegnehmen, kippt er um und stirbt."
Doch es führte irgendwann kein Weg mehr daran vorbei. Mein Vater kam eines Morgens komplett übermüdet und dehydriert nach Hause. Die Haushälterin machte ihm Frühstück und Tee, woraufhin es ihm etwas besser ging. Die Vermutung meiner Schwester und mir: Er hatte sich verfahren und die Nacht im Auto verbracht, da er nicht mehr nach Hause fand.
Meine Mutter starb im Mai 2023 im Alter von 79 Jahren. Nach ihrem Tod hatte mein Vater spürbar mit allem abgeschlossen. Wir bekamen zwar nie eine Diagnose, sind aber davon überzeugt, dass er an Altersdepressionen litt. Er war für nichts mehr zu begeistern. Nicht mal seine Kinder und Enkelin konnten daran etwas ändern.
Rückzug aus der Gegenwart
Er war schon immer ein stiller Mensch gewesen, aber die Depression liess ihn nahezu verstummen. Wenn wir ihn besuchten, hatte er immer eine Decke über den Beinen und beobachtete die Vögel draussen. Er zog sich immer mehr aus der Gegenwart zurück. Er nahm wahr, dass er immer stärker eingeschränkt wurde. Für einen intellektuellen Menschen wie ihn war es schlimm, akzeptieren zu müssen, dass ausgerechnet das Werkzeug, das man am meisten nutzt – das Gehirn – immer schlechter wird.
Mein Vater war sehr stur. Wir versuchten, ihn in einer Tagespflege unterzubringen, damit er soziale Kontakte hat. Kurz nachdem wir ihn für einen Schnuppertag dort hingebracht hatten, rief uns die Betreuerin an: Er wollte nach Hause gehen.
Sein Haus hätte er in diesem Zustand niemals gefunden. Es waren diese Situationen, die emotionalen Stress in mir auslösten. Neben Kind, Familie, Beruf und Alltag sich noch um pflegebedürftige Eltern kümmern zu müssen, kann einen zermürben. Wir Töchter versuchten viel, aber unser Vater verweigerte alles.
Schlechter Zugang zu Gefühlen
Letztlich war das seine Entscheidung. Ich hätte mir etwas anderes für ihn gewünscht. In der Generation meiner Eltern wurde nicht über Gefühle gesprochen. Mein Vater war ein sehr verkopfter Mensch und hatte einen schlechten Zugang zu seinen Gefühlen. Er war nie bereit, Hilfe anzunehmen. Ich vermute, dass er das einfach nie gelernt hat oder sogar zu stolz dafür war.
Vor allem tut es mir für mein Kind leid, dass es so früh seine Grosseltern verloren hat. Meine inzwischen sechsjährige Tochter hatte zu ihrem Opa ein engeres Verhältnis als zu ihrer Oma. Ich bin spät Mutter geworden, mit 42 Jahren. Dementsprechend waren meine Eltern ältere Grosseltern. Als meine Tochter geboren wurde, war meine Mutter bereits krank. Je älter meine Tochter wurde, umso mehr baute meine Mutter ab. Da war eine immer grössere Distanz. Mit einem kleinen Kind kann man sich noch einfacher beschäftigen, ein grösseres erfordert mehr Aktivität. Mein Vater war da noch fitter, ging mit ihr in den Garten, um ihr die Namen der Blumen beizubringen, las ihr etwas vor, spielte mit ihr Ball. Er freute sich immer über sein Enkelkind, aber es war nicht genug.
Meine Schwester und ich waren eines Abends bei ihm, um ihm zu sagen, dass wir das Auto mitnehmen. Mein Vater nahm es hin. Wir fuhren am Abend mit dem Auto weg und am nächsten Morgen brach er im Bad zusammen und war tot. Erst am Folgetag fand ihn die Haushälterin. Mein Vater lag auf dem gefliesten Fussboden, der Wasserhahn lief, das Frühstück stand noch auf dem Tisch.
Er war 84 Jahre alt, als er starb. Es war nicht überraschend, aber doch sehr plötzlich für uns. Für meine Schwester war es besonders schlimm, weil sie ja noch gesagt hatte: "Wenn wir ihm das Auto wegnehmen, kippt er um und stirbt." Und genauso kam es.
Belastung erst im Nachhinein deutlich
Meine jüngere Schwester und ich unterstützten uns immer gegenseitig. Letztlich hatten wir das Glück, dass unsere Eltern den Nachlass bereits zu Lebzeiten geregelt hatten. Unser Elternhaus ist noch so, wie sie es verlassen haben. Wir hatten noch nicht die Zeit, es auszuräumen.
Wir kommen kaum dazu, das Grab zu pflegen. Wir sind beide nicht vor Ort, das Grab wird von einer Gärtnerei gepflegt. Ich lasse mir einen Zwillingsstein des Grabsteins anfertigen und stelle mir ihn in den Garten, damit ich die beiden immer in Erinnerung habe.
Meine Schwester und ich haben erst im Nachhinein, als meine Eltern bereits verstorben waren, gemerkt, wie sehr uns das alles belastet hatte. Nicht nur durch die Krankheit selbst, auch durch die Bürokratie und die Arbeit, die dadurch anfiel. Hier ein Brief der Krankenversicherung, da eine E-Mail der Pflegeeinrichtung. Ich war täglich präsent, funktionierte immer.
Empfehlungen der Redaktion
Rückblickend muss ich sagen: Es ist schade, dass meine Eltern nicht mehr da sind und ihr Enkelkind nicht aufwachsen sehen können, aber es ist gut, dass meine Schwester und ich jetzt mit rund 50 Jahren noch mal neu starten können. Das macht den Abschied etwas einfacher.
Im November, bevor mein Vater starb, waren wir mit ihm zusammen nochmal in seinem Elternhaus zu Besuch. Die Familie hatte eine Schnapsbrennerei in der Eifel, ein uraltes Fachwerkhaus, das seit Generationen in Familienbesitz ist. Da merkte ich, dass es sich wie ein Abschied für ihn anfühlte. Wenige Wochen später war er tot. Vielleicht auch mit einem Stück Klarheit im Kopf: Ich habe meinen Lebensauftrag erfüllt, jetzt kann ich in Frieden gehen."
Alzheimer-Demenz
- In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die häufigste Form ist Alzheimer. In Relation zur Bevölkerung sind die Daten in Österreich und der Schweiz ähnlich. In Österreich leben Schätzungen zufolge rund 170.000 Menschen mit einer Form von Demenz, in der Schweiz sind es rund 162.000.
- Erste Symptome treten meist ab 65 Jahren auf, seltener auch früher. Risikofaktoren sind unter anderem ein höheres Lebensalter, genetische Veranlagung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ein ungesunder Lebensstil. Typische Anzeichen sind Gedächtnislücken, Orientierungsprobleme, Sprachstörungen und Persönlichkeitsveränderungen. Mit fortschreitender Erkrankung verlieren Betroffene zunehmend ihre Selbstständigkeit.
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