• Die Pathologin Kirsten Mertz hat in den vergangenen zwei Jahren viele COVID-19-Tote untersucht.
  • Im Gespräch erklärt sie, warum mehr Menschen an COVID-19 gestorben sind als offiziell gemeldet und warum man dank der Autopsien das Krankheitsgeschehen etwa besser versteht.
  • Bisher wüssten wir nicht, was eine überstandene Corona-Infektion mit den Menschen mache.
Ein Interview

Frau Mertz, Ihren Untersuchungen zufolge starben in der Schweiz bisher mehr Menschen an COVID-19, als in den Statistiken auftauchen. Wie kommen Sie zu Ihren Zahlen?

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In der ersten COVID-19-Pandemie-Welle (zwischen März und Mai 2020) lag die Übersterblichkeit in Europa im April 2020 bei 25 Prozent, in der zweiten Welle (August 2020 bis Februar 2021) erreichte der Wert im November 2020 41 Prozent. Wenn man die offiziell gemeldeten Zahlen der Corona-Toten in diesen Monaten in Betracht zieht, reichen sie nicht aus, diese Übersterblichkeit zu erklären. Dies hat uns vermuten lassen, dass mehr PatientInnen an COVID-19 gestorben sind, als offiziell gemeldet. Das war die Ausgangslage für unsere Untersuchung. Wir haben 62 Autopsie-PatientInnen aus unserem Einzugsgebiet rund um Basel aus der ersten und zweiten Welle noch einmal sehr genau angeschaut. Diese PatientInnen hatten sehr verschiedene offiziell gemeldete Todesursachen. Bei 28 der Verstorbenen fanden wir SARS-CoV-2 im Lungengewebe, obwohl nur bei 18 davon zum Todeszeitpunkt angegeben war, dass sie an COVID-19 erkrankt waren. Diese relativ hohe Anzahl an unentdeckten Infizierten überraschte uns. Bei den meisten dieser 10 Unentdeckten hatte das betreuende medizinische Personal gar keinen Test durchgeführt, möglicherweise, weil die PatientInnen teilweise keine COVID-19-Symptome hatten. Daraus folgern wir, dass eine erhebliche Anzahl von Infektionen nicht gemeldet wurden. Bei zwei PatientInnen war der PCR-Test negativ ausgefallen, obwohl sie das Virus in sich trugen. Es befand sich möglicherweise schon gar nicht mehr im Nasen-Rachen-Raum, sondern in der Lunge und anderen Organen.

INFO: Stichwort "Übersterblichkeit"
Wenn in einem Zeitraum in einer Region mehr Menschen sterben, als es zur erwarten gewesen ist, sprechen WissenschaftlerInnen von Übersterblichkeit. Die Schätzung der zu erwartenden Sterberate ist kompliziert und fehleranfällig. Sie muss zum Beispiel auch Hitze- und Grippewellen mit einberechnen. Je nachdem, welche statistischen Modelle zum Einsatz kamen, können die Berechnungen zur Übersterblichkeit unterschiedlich ausfallen.

Dass Sie das Coronavirus bei diesen offiziell nicht Infizierten gefunden haben, heisst ja aber noch nicht, dass die Betroffenen auch an COVID-19 gestorben sind, oder?

Von den zehn unerwartet SARS-CoV-2-positiven PatientInnen hatten fünf charakteristische Autopsie-Befunde, die auf COVID-19 hinweisen. Im Lungengewebe fanden wir beispielsweise Anzeichen einer heftigen Entzündung, wie sie für COVID-19 typisch ist. Bei einem Patienten fanden wir Blutgerinnsel in den Herzkranzgefässen, mit nachfolgendem Herzinfarkt und Herzversagen. Wir gehen davon aus, dass in unserer Untersuchungsgruppe also zusätzlich fünf weitere Menschen an COVID-19 gestorben sind, die statistisch nicht erfasst waren. Damit läge die Anzahl der Todesfälle um acht Prozent höher als ursprünglich angenommen.

Klare Zuordnung, ob mit oder an COVID-19 gestorben, nicht immer möglich

Mit oder an Corona gestorben, ist also nach wie vor eine schwierig zu beantwortende Frage?

Es gibt eindeutige Fälle. Menschen, die SARS-CoV-2 in der Lunge tragen und bei denen wir die für das Coronavirus typischen massiven Lungenschädigungen finden, die das Coronavirus verursacht hat, sind eindeutig an der Infektion gestorben. Verkehrstote dagegen, die an den Folgen eines Unfalls gestorben sind und nebenbei auch eine Corona-Infektion hatten, sind natürlich ganz klar mit der Infektion gestorben. Dann gibt es aber auch die Fälle im Graubereich: Sind das Blutgerinnsel im Herzkranzgefäss und der Herzinfarkt mit Todesfolge direkte Folgen der Infektion mit SARS-CoV-2, von dem man ja weiss, dass es die Blutgerinnung fördert? Oder hätte der Verstorbene auch ohne Infektion einen Herzinfarkt bekommen?

Zusätzliche Infektionen mit Bakterien bei COVID-19 und der Grippe

Häufig stellen sich doch während oder nach einer Viruserkrankung noch zusätzliche bakterielle Infektionen ein. Bei der Influenza-Grippe ist das, so meine ich, häufig der Fall. Die Bakterien nutzen die Schwächung des Patienten durch den Virusinfekt aus, um sich im Körper auszubreiten. Gerade bei der Grippe, vor allem wenn ältere Menschen betroffen sind, geschieht das nicht selten mit Todesfolge. Wird bei den Grippe-Toten eigentlich auch unterschieden, ob sie direkt am Grippe-Virus oder durch eine nachfolgende Infektion mit Bakterien gestorben sind? Und wie sieht es aus, wenn nicht das Coronavirus direkt, aber eine Infektion mit Bakterien letztlich zum Tode führte?

Ja, das sind ebenfalls Graubereiche. Auch bezogen auf die Grippe-Toten ist das Bewusstsein für diese Unterschiede inzwischen gestiegen. Wobei wir häufig das eine nicht vom anderen trennen können. Ich sehe zum Beispiel eine junge Frau vor mir. Sie starb an einer schweren Lungenentzündung verursacht durch Haemophilus-Influenzae Bakterien. Allerdings hätten diese Bakterien sie vermutlich nicht umgebracht, wenn sie nicht kurz zuvor eine echte Virusgrippe (Influenza) gehabt hätte. Sicher entscheiden kann man das aber auch im Rahmen einer Autopsie nicht. Ähnliches gilt auch für COVID-19. Glücklicherweise haben sich hier unsere molekularbiologischen Nachweismethoden, die wir in der Pathologie nutzen, in den letzten anderthalb Jahren sehr verbessert. Mit unserer Diagnostik können wir mindestens 5.000 verschiedene Bakterien und 10.000 verschiedene Viren im Körper der Verstorbenen nachweisen. Die meisten Verstorbenen mit SARS-CoV-2 in der Lunge und COVID-19 typischen Lungenschäden in unserer Untersuchungsgruppe hatten keine zusätzlichen bakteriellen Infekte, sondern nur SARS-CoV-2. Es ist dennoch wichtig, dass wir bei der Diagnose immer auch in die Breite denken. Viele verschiedene Erreger können eine Lungenentzündung verursachen. Wir haben hier auch den Fall eines Mannes gesehen, der an einer schweren Lungenentzündung und -schädigung mit resultierendem Lungenversagen gestorben war. Die behandelnden ÄrztInnen waren sicher, dass der Mann COVID-19 hatte. Immer wieder hatten sie Abstriche und Coronatests angeordnet, aber die Tests waren negativ ausgefallen. Erst bei der Autopsie stellte sich heraus, dass der Mann an einer Legionellen-Pneumonie, also einer bakteriellen Infektion, gestorben war.

INFO: Wie Autopsien helfen, COVID-19 besser zu verstehen
Offene Fragen zum Krankheitsverlauf von COVID-19 bei der die Pathologie helfen kann, Antworten zu finden. Jeffery Taubenberger und seine US-KollegInnen listen fünf Fragen auf:
1. Können Biomarker gefunden werden, die voraussagen, wer schwer an COVID-19 erkranken wird?
2. Sind die Gerinnungsstörungen bei COVID-19 eine Folge von Schädigungen an den Blutgefässwänden, die bereits vor der Infektion bestanden oder werden diese Schäden durch die Infektion ausgelöst?
3. Gibt es Grenzwerte bezogen auf die Viruslast oder Lungenschädigungen, ab denen COVID-19 schwer oder gar tödlich verläuft?
4. Welche Therapien könnten entwickelt werden, um die fatalen Gerinnungsstörungen zu stoppen?
5. Haben Menschen, die eine COVID-19-Erkrankung überstanden haben in den Folgejahren ein erhöhtes Risiko für Schlaganfall, Lungen-, Nieren- oder Herzversagen?

Forscher: Sars-CoV-2 kann Beschwerden im Ohr auslösen

Corona kann auch das Ohr negativ beeinflussen. Das ist das Ergebnis einer Meta-Analyse von Forschenden der University of Manchester in England. Bei jedem Siebten der untersuchten Corona-Erkrankten wurde ein Tinnitus festgestellt.

Der US-amerikanische Virologe Jeffery Taubenberger fordert, mehr Autopsien durchzuführen, um zu verstehen, warum manche Menschen schwer an COVID-19 erkranken. Welche Prozesse das Virus im Körper auslöst, wenn es sich dort ausbreitet. Sehen Sie das auch so?

Absolut. Wir sind in diesen zwei Pandemie-Jahren erstaunlich wenig weit gekommen, was das Wissen um die Krankheitsentwicklung von COVID-19 betrifft. Der beste Weg, um hier mehr zu verstehen, ist tatsächlich das menschliche Gewebe direkt anzuschauen. Tiermodelle, ja, sie geben ein paar Anhaltspunkte, aber viel mehr würden wir davon profitieren, wenn wir mehr Autopsien von COVID-Toten gemacht hätten. In der Schweiz hat man kein grösseres zentrales COVID-19 Gewebe-Archiv eingerichtet. In Deutschland dagegen hat man eine sehr gute Lösung gefunden. Hier sammelt man die Proben aller COVID-Autopsien zentral in einer Biobank. Forscher können bei Interesse gezielt Gewebe anfordern, um eigene wissenschaftliche Fragestellungen zu COVID-19 zu bearbeiten.

INFO: Deutsches COVID-19-Autopsieregister
Das deutsche COVID-19-Autopsieregister wurde im April 2020 an der Uniklinik RWTH Aachen gegründet. Das Ziel dieser Datenbank ist es, möglichst viele Obduktionen in Deutschland zu erfassen und Forschenden Material und Daten zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um ein elektronisches Register. Die PathologInnen geben ihre Daten in elektronische Formulare ein, das Biomaterial selbst bleibt an dem Klinikstandort, wo es entnommen wurde. Bereits bis Oktober 2021 enthielt das Register mehr als 1100 Obduktionsfälle und Informationen zu knapp 18700 Gewebeproben. Bei 86 Prozent der Fälle war COVID-19 die Todesursache. Meistens waren die Betroffenen wegen starker Schädigungen der Lungenbläschen an akutem Lungenversagen gestorben. An zweiter Stelle der unmittelbaren Todesursache stand das Multiorganversagen.

Sie sagen, wir seien bisher noch nicht sehr weit gekommen mit unserem Verständnis, was genau COVID-19 so gefährlich macht. Mögen Sie mir dennoch ein Beispiel nennen, in welchem Bereich des Krankheitsgeschehens wir heute – auch dank der Autopsien – definitiv mehr wissen als zu Beginn der Pandemie?

Das Coronavirus kann neben dem Atemtrakt und der Lunge so ziemlich alle Organe des Körpers infizieren. Wir fanden es bei unseren Untersuchungen zum Beispiel bei 12 von 28 Verstorbenen auch im Herzgewebe oder der Schilddrüse, bei acht auch in der Niere und Nebenniere, bei sechs in der Bauchspeicheldrüse und bei fünf von 28 auch in der Leber. Das Virus kann, wie andere zeigten, auch im Gehirn, in der Nabelschnur und in der Plazenta auftauchen. Das war überraschend, weil man zu Anfang davon ausgegangen war, dass COVID-19 eine Lungenkrankheit ist. Eine besondere Rolle für den Krankheitsverlauf scheint zu spielen, dass Sars-CoV-2 auch Fettzellen infizieren kann. Das Virus kann im Fettgewebe eine bisweilen heftige Entzündung verursachen. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Zumal wir ja in einer Welt leben, die nicht nur mit einer Corona-, sondern auch mit einer Fettleibigkeitspandemie zu kämpfen hat. Darum waren möglicherweise auch PatientInnen mit einem höheren Body-Mass-Index häufiger und schwerer von COVID-19 betroffen.

Omikron-Tote trotz Dreifachimpfung

Was hat sich geändert, seit Impfstoffe zur Verfügung stehen?

Die Corona-Impfung spielte zum Zeitpunkt unserer Untersuchung, über die wir hier sprechen, noch keine Rolle. In der Schweiz begann die Impfkampagne im Januar 2021. Keiner der von uns für diese Studie untersuchten Verstorbenen war also geimpft. Jetzt sehen wir, dass tödliche Verläufe bei Geimpften zwar selten sind. Aber wir haben eben auch Omikron-Tote, die gestorben sind, obwohl sie dreimal geimpft waren. Häufig sind das (ältere) Menschen, die zusätzliche Erkrankungen oder eine Immunschwäche hatten. Darum glaube ich nicht, dass Omikron so harmlos ist, wie das oft behauptet wird. Wir sind das Virus noch nicht los, es können weitere Mutanten entstehen, und wir dürfen seine Gefährlichkeit nicht unterschätzen. Mit Gefährlichkeit meine ich nicht nur die unmittelbaren Folgen einer akuten Infektion. Wir sehen zurzeit nur die Spitze des Eisbergs. Was wir nicht abschätzen können, sind die Folgeschäden einer Corona-Infektion. 98 Prozent der PatientInnen überleben eine solche Infektion ja glücklicherweise. Aber wir wissen einfach noch nicht oder können es bestenfalls nur erahnen, was das Virus mittel- bis langfristig mit einem Teil dieser Menschen macht. Erhöht sich das Risiko für Schlaganfälle? Welche langfristigen Schäden tragen Lunge und Gehirn davon? Welche psychiatrischen Folgeerscheinungen gibt es möglicherweise? Alle diese Fragen werden uns noch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch begleiten. Ich habe vor dem Virus nach wie vor Respekt.

Offenlegung: Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden über die Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung gefördert.

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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