Viele Eltern klagen über Schlafmangel – zuweilen auch, wenn die Kinder bereits älter sind. Was hilft, wenn der Rhythmus durcheinander ist? Das sagt eine Expertin für die Behandlung von Schlafproblemen.
"Sobald es mich anlächelt, ist die Müdigkeit wie verflogen", sagen viele glückliche, aber übermüdete Eltern. Neugeborene bringen ihren Eltern viel Freude – und sie bringen Tag und Nacht durcheinander, vor allem in den ersten Monaten. Viele Eltern werden nicht nur durch das nächtliche Schreien wach. Auch die Sorge, dass dem Kind etwas fehlen könnte und es deshalb weint, kann die Schlafqualität verschlechtern.
Deshalb raten Experten jungen Eltern, sich über das Schlafverhalten von Neugeborenen zu informieren. Denn: Der Tag-Nacht-Rhythmus, auch zirkadianer Rhythmus genannt, muss sich bei einem Baby erst entwickeln.
Das Schlafverhalten von Babys
- Jedes Kind hat ein individuelles Schlafbedürfnis. Ein gewisses Muster gibt es jedoch, an dem Eltern sich orientieren können.
- Nach der Geburt bleibt ein Neugeborenes zunächst beim Schlaf-Wach-Rhythmus, den es zum Ende der Schwangerschaft im Mutterleib hatte. Durchschnittlich schlafen Neugeborene 16 bis 18 Stunden am Tag – verteilt auf etwa fünf Schlafphasen. Alle zwei bis vier Stunden wachen sie auf.
- Mit etwa vier bis sechs Wochen wird das Schlafverhalten regelmässiger. Das Baby stellt sich langsam auf einen Tag-Nacht-Rhythmus ein. Tagsüber ist es länger wach, nachts schläft es nach und nach etwas länger am Stück.
- Bis zum 6. Lebensmonat schlafen viele Kinder sechs Stunden durch.
- Während des ersten Lebensjahres werden Wach- und Schlafphasen immer länger. 80 Prozent schlafen mit einem Jahr sechs bis acht Stunden in der Nacht.
Hat das Baby sich an den Schlaf-Wach-Rhythmus gewöhnt, wird es in den meisten Familien nachts ruhiger. Doch auch Kleinkinder können aufgrund von Faktoren wie Entwicklungs- und Wachstumsschüben oder Trennungsangst häufiger aufwachen.
Und: Ein über längere Zeit gestörter Schlafrhythmus kann für anhaltende Schlafprobleme sorgen – auch, wenn die Kinder längst aus dem Kleinkindalter heraus sind, sagt Veronica Cremascoli, Somnologin und Psychologische Leiterin in den Zurzach-Care-Kliniken für Schlafmedizin in Bad Zurzach und Zürich.
Kind schläft durch, Schlafprobleme bei Eltern bleiben
"Häufig resultiert ein jahrelang gestörter Schlafrhythmus in anhaltenden Schlafstörungen, die selbst dann bestehen bleiben, wenn die Kinder ruhiger schlafen. Dies kann einerseits passieren, weil sich der Körper an den unregelmässigen Schlafrhythmus gewöhnt, insbesondere wenn Eltern häufig nachts aufstehen müssen. Das bedeutet, dass der Körper Schwierigkeiten hat, in einen tiefen und erholsamen Schlaf zu fallen.
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Andererseits können Eltern eine Form von innerer Alarmbereitschaft entwickeln, die ihnen signalisiert, ständig bereit sein zu müssen, falls das Kind weint oder ruft. Auch wenn die Umstände sich ändern und keine unmittelbare Gefahr oder Sorge mehr besteht, bleibt diese innere Anspannung oft bestehen", so Veronica Cremascoli.
Wenn das Nervensystem nachts in Alarmbereitschaft ist
Weiter sagt sie: "Schlaflosigkeit wird oft als 'Hyperarousal'-Störung verstanden, bei der der Körper und Geist in einem Zustand ständiger Übererregung sind. Statt sich zu entspannen, bleibt das Nervensystem in Alarmbereitschaft. Der Gedanke, jetzt unbedingt schlafen zu müssen, verstärkt diesen Zustand zusätzlich. Je mehr Druck man sich selbst macht, desto schwerer fällt es, loszulassen. Diese Angst, nicht schlafen zu können, aktiviert das Nervensystem erneut. Ein Teufelskreis, der das Einschlafen fast unmöglich macht."
Nicht loslassen zu können, sei einer der zentralen Faktoren, der die Schlaflosigkeit aufrechterhält. Die Sorge, dem Kind durch die Folgen des Schlafmangels tagsüber nicht gerecht zu werden, könne zudem zu Schuldgefühlen führen. Wichtig zu wissen: Überforderte Eltern können verschiedene Beratungs- und Unterstützungsangebote wie die "Frühen Hilfen", die es in allen Gemeinden gibt, in Anspruch nehmen.
Schlafmangel als Gesundheitsrisiko
Während kurzfristiger Schlafmangel unangenehm, in der Regel aber nicht gefährlich ist, kann ein über Monate oder Jahre anhaltendes Schlafdefizit eine Vielzahl gesundheitlicher Folgen haben. Dazu zählen:
- Kognitive Einschränkungen wie Konzentrationsprobleme oder Gedächtnisverlust
- Depressionen, Angststörungen, Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen
- Erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes
- Hormonelle Veränderungen, die zu Heisshunger, erhöhter Stressanfälligkeit oder Stoffwechselstörungen führen können
- Erhöhtes Unfallrisiko durch verzögerte Reaktionszeit und verringerte Aufmerksamkeit
Veronica Cremascoli empfiehlt, ärztlichen Rat einzuholen, wenn der Schlafmangel den Alltag bereits stark beeinträchtigt und über einen längeren Zeitraum besteht. Allerdings könne auch die Angst vor den Folgen des Schlafmangels dazu beitragen, dass sich die Schlafstörung weiter manifestiert.
Strategien gegen Schlafprobleme
Neue Strukturen und Angewohnheiten können helfen, den quälenden Kreislauf hinter sich zu lassen. Regelmässige entspannende Rituale helfen Kindern und Erwachsenen gleichermassen, einen gesunden Schlafrhythmus zu etablieren. Ein warmes Bad, eine Gute-Nacht-Geschichte oder Entspannungsübungen am Abend signalisieren dem Körper, dass Ruhe einkehren darf.
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Um endlich einmal ungestört schlafen zu können, ist es für übermüdete Eltern wichtig, Hilfe und Unterstützung von anderen Menschen anzunehmen – dazu gehört auch Loslassen. Lernen, loszulassen und sich in Akzeptanz statt Kontrolle zu üben, spiele auch eine entscheidende Rolle, um den Teufelskreis aus übererregtem Nervensystem und Schlafstörungen zu durchbrechen, sagt Schlaf-Expertin Cremascoli.
Dabei können diese Ansätze helfen:
- Optimierte Schlafhygiene: Regelmässige Schlafenszeiten einführen, eine kühle und dunkle Schlafumgebung schaffen, auf Koffein und schwere Mahlzeiten am Abend verzichten.
- Stimuluskontrolle: Automatisierte Verhaltensweisen durch neue Angewohnheiten unterbrechen. Zum Beispiel kann das Smartphone aus dem Schlafzimmer verbannt und durch ein Buch ersetzt werden – lieber ein paar Seiten lesen, statt im Algorithmus zu versacken.
- Entspannungstechniken: Atem- und Achtsamkeitsübungen, progressive Muskelentspannung oder autogenes Training können helfen, die innere Alarmbereitschaft und Anspannung abzubauen.
Sollte man Schlaf tagsüber nachholen?
Während Veronica Cremascoli unter Schlafmangel leidenden Eltern rät, die Schlafenszeiten des Kindes für Powernaps von etwa 15 bis 30 Minuten zu nutzen, um etwas Energie zurückzugewinnen, sollten Personen mit Schlafproblemen tagsüber auf lange Nickerchen verzichten. Eine gute Tagesstruktur mit ausreichend körperlicher Aktivität und Lichtexposition hilft, den Schlafdruck aufzubauen und abends besser zur Ruhe zu kommen, so die Expertin.
Wenn die neuen Angewohnheiten nicht helfen oder sich sogar eine regelrechte Angst vor dem Schlafengehen entwickelt hat, kann eine kognitive Verhaltenstherapie hilfreich sein. Ziel der Therapie ist es, sich nächtliches Grübeln abzugewöhnen und Schlaf wieder mit positiven Erfahrungen und Emotionen in Verbindung zu bringen. Empfehlenswert sei auch ein Besuch bei einem Schlafspezialisten.
Über die Gesprächspartnerin
- Veronica Cremascoli ist Fachpsychologin für Psychotherapie, Somnologin und psychologische Leiterin der "Zurzach Care"-Kliniken für Schlafmedizin in Bad Zurzach und Zürich, in denen Schlafstörungen diagnostiziert und behandelt werden.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Veronica Cremascoli
- familienportal.nrw: Der Babyschlaf im 1. Lebensjahr
- kindergesundheit-info.de: Schlafmangel meistern oder: Wie man am besten durch die harte Zeit kommt
- ncbi.nlm.nih.go: Establishing causal relationships between sleep and adiposity traits using Mendelian randomization
- thieme-connect.de: Schlafmangel - Risikofaktor für Adipositas und Diabetes?