Margarida Bonetti zieht nach Washington. Jahre später soll sie sich wegen sklavenähnlicher Behandlung einer Frau verantworten. Doch sie entkommt der Justiz.

Praktisch jeder in der Stadt kannte das halb verfallene, zweistöckige Haus inmitten der steil aufragenden Hochhäuser von São Paulo. Doch niemand schien sich für die ältere Bewohnerin zu interessieren, die mit einem seltsam weiss geschminkten Gesicht durch die Strassen zog und unvermittelt in Wut ausbrechen konnte – bis ein neuer Nachbar auf sie aufmerksam wurde und das Geheimnis von Margarida Bonetti lüftete.

Ihr Vergehen? Sie soll ihre Hausangestellte wie eine Sklavin behandelt haben. Aber angeklagt wurde sie deswegen nie – weil sie vorher flüchtete.

Die Leute nannten sie "bruxa", Hexe

Als Chico Felitti, Journalist bei der Zeitung "Folha de São Paulo", in den vornehmen Vorort Higienópolis mit den gläsernen Hochhäusern zieht, fällt ihm bei Spaziergängen das heruntergekommene Haus ins Auge, das sich in den Schatten der Hochhäuser duckt und so gar nicht ins Bild passt.

Der Putz ist in grossen Stücken abgeplatzt, das Dach hat grosse Löcher und die Fenster sind vernagelt. Felitti wird schnell klar, dass die einst herrschaftliche Villa eine spannende Geschichte haben muss. In dem Haus lebt zu dem Zeitpunkt eine ältere Frau, die verwahrlost wirkt. Die Leute nennen sie "bruxa", Hexe.

Felittis Interesse ist geweckt: Wer ist die Frau und was ist mit ihr passiert? Hat sie etwas zu verbergen? Eine Nachbarin gibt ihm den entscheidenden Tipp, er findet einen Artikel der "Washington Post" (Bezahlinhalt) aus dem Jahr 2000, in dem der Fall von Margarida und ihrem Mann Renê Bonetti beschrieben wurde.

Felitti recherchiert weiter und produziert einen zehnteiligen Podcast, den er 2022 auf Spotify veröffentlicht. Er schlägt damit in Brasilien hohe Wellen und macht aus Margarida Bonetti eine Berühmtheit wider Willen. Täglich pilgern Schaulustige zu dem Haus und versuchen einen Blick auf die mysteriöse Frau hinter den zerschlissenen Vorhängen zu erhaschen. Seit dem 14. August 2025 läuft der Fall auch auf Amazon Prime Video als dreiteilige Doku mit dem Titel: "Abandonded: The Woman in the Decaying House" ("A Mulher da Casa Abandonada") – die Frau in dem verfallenen Haus.

Wer ist die Frau aus dem verfallenen Haus?

Margarida Maria Vicente de Azevedo stammt aus reichem Haus. Ihr Vater Geraldo de Azevedo war ein angesehener Chirurg, ihre Mutter Lourdes hatte Vorfahren aus dem spanischen Hochadel. Margaridas Grossvater trug den Titel "Baron", sein Bild war auf brasilianische Briefmarken gedruckt.

"Jeder kannte sie", sagt ein Nachbar 2023 der "Washington Post" (Bezahlinhalt). Er erinnert sich noch an die goldenen Zeiten, in denen das wohlhabende Paar in seine luxuriös ausgestatteten Räume geladen hatte – mit dicken Teppichen, Kristallgläsern, Gemälden und kostbaren Möbeln. Das Paar hatte drei Töchter, darunter Margarida, damals noch ein schüchternes, adrettes Mädchen, wie der Nachbar sie beschreibt.

Anfang der 1970er Jahre heiratet Margarida den aufstrebenden Ingenieur Renê Bonetti. Die beiden bekommen einen Sohn, Arthur. Ihr Mann beginnt eine steile Karriere im Nationalen Institut für Weltraumforschung und Ende der 1970er beschliesst die junge Familie, nach Washington D. C. zu ziehen. Renê hat dort eine prestigeträchtige Stelle bei einem Telekommunikationsunternehmen angenommen, um Satellitenforschung zu betreiben.

Margarida nimmt Hilda als Hausmädchen mit in die USA

Margaridas Eltern schlagen der Tochter vor, für die Zeit ihre eigene Hausangestellte Hilda mitzunehmen. Hilda Rosa Dos Santos kommt aus einer armen Familie mit zwölf Geschwistern, ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Schon als Kind wird sie als Dienstmädchen an eine Familie "abgegeben", wie sie später im Prozess gegen Renê Bonetti aussagen wird. Ihre Mutter hatte keine Mittel, die Kinder zu versorgen. Hilda ging nie zur Schule und ist Analphabetin.

In den 1960er Jahren, mit etwa 19 Jahren, kommt Hilda zu Margaridas Familie und lebt dort in einer kleinen Kammer neben der Küche. Margarida ist zu dem Zeitpunkt etwa neun Jahre alt. Eigentlich sei sie diejenige gewesen, die Margarida grossgezogen habe, betont Hilda Jahre später in ihrer Aussage. Sie nennt sie "Miss Margo".

Der Aufenthalt der Bonettis in den USA ist zunächst zeitlich auf ein Jahr begrenzt, Margaridas Eltern versprechen, das Gehalt von Hilda in dieser Zeit zu bezahlen. Auf dieser Tatsache besteht Renê, als ihm im Jahr 2000 der Prozess gemacht wird. Hilda bekommt aber keinen einzigen Penny zu sehen, ihr ganzes Leben nicht. Und aus einem Jahr werden fast 20 Jahre.

Die Fassade beginnt zu bröckeln

Doch Ende der 1990er Jahre beginnt die Fassade der gutbetuchten Familie aus Brasilien zu bröckeln. Bis dahin lebt Margarida – immer schick gekleidet, gebildet, mit perfektem Englisch – mit ihrem Mann sehr zurückgezogen. "Sie blieben unter sich", erklärt eine Nachbarin in der Prime-Doku.

Obwohl Margarida ebenfalls Ingenieurwesen studiert hat, arbeitet sie nach Angaben ihres Mannes nie in dem Beruf. Sie ist einsam: Zu Hause gehörte sie zu den sogenannten "Quatrocentões" – jener Herrschaftsschicht, die sich auf ihre 400-jährige Abstammung zu den weissen Gründerfamilien São Paulos beruft. Nun, in einem ruhigen Vorort von Gaithersburg, eine halbe Autostunde von Washington entfernt, hat sie nichts zu tun. "Sie wurde obsessiv", umschreibt ein ehemaliger Arbeitskollege von Renê die Situation in dessen Prozess.

Die Nachbarn beobachten, dass neben der Familie offensichtlich noch eine weitere Person in dem Haus lebt. Aber diese Person – Hilda – arbeitet die ganze Zeit: Sie putzt Fenster, schaufelt im Winter in viel zu dünner Kleidung Schnee, macht Gartenarbeit. Und sie bleibt isoliert, ohne Geld und ohne die Sprache zu lernen.

Irgendwann wendet sich Hilda an ihre Nachbarn. Der Grund ist erschütternd: Sie hat Hunger.

In der Prime-Doku kommt Hilda Rosa Dos Santos auch immer wieder zu Wort. Margarida habe irgendwann angefangen, sie aus heiterem Himmel zu schlagen und ihr Vorwürfe zu machen. Sie habe Hilda unter anderem beschuldigt, den Kühlschrank leerzuessen. Deshalb habe Renê Benetti dort ein Schloss angebracht. Und deshalb habe sie sich an die Nachbarn gewandt.

Hilda lebt wie eine Sklavin

Diese sind alarmiert. Aber Hilda redet nicht. Zu gross ist die Angst vor "Miss Margo", vor neuen Misshandlungen. Erst als die Nachbarn sie mit einer spanischsprachigen Freundin zusammenbringen, öffnet sich Hilda. Obwohl Hilda nur Portugiesisch spricht, können sich die beiden Frauen verstehen. Und Hildas Worte erschüttern die Nachbarschaft: Sie wird geschlagen, hat eine offene Wunde am Bein und ständig Bauchschmerzen. Sie bekommt für ihre Arbeit kein Geld, darf nicht zum Arzt und wird oft in der Nacht herausgeklingelt. Sie muss im Keller wohnen, ohne Fenster, ohne Möbel, ohne Bad, ohne richtiges Bett.

Ihre neuen Bekannten reden eindringlich auf sie ein und versuchen, Hilda aus der Situation herauszuholen, sie zur Flucht zu drängen. Doch erst Ende des Jahres 1998 wendet sich das Blatt. Die Bonettis fliegen für ein paar Monate zurück nach São Paulo, lassen Hilda aber in den USA zurück. In dieser Zeit schaffen es die Nachbarn, sie zu überreden, das Haus zu verlassen.

Es ist höchste Zeit, denn inzwischen kann sich Hilda kaum noch bewegen, so dick ist ihr Bauch angeschwollen. Sie muss operiert werden, ihr wird ein basketballgrosser Tumor entfernt. Eine Kirchengemeinde bringt sie anonym in einer Dachgeschosswohnung unter, schliesslich sollen die Bonettis sie nicht finden.

Nun wird das FBI eingeschaltet. Denn Hilda hat keine Papiere, Pass und Visum sind längst abgelaufen, damit gilt sie als illegale Immigrantin. Die Bonettis ahnen von all dem nichts. Als sie nach Hause kommen, ist das Kellergeschoss leer.

Renê Bonetti macht ein lächerliches Angebot

Im Jahr 2000 kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, doch nur Renê Bonetti sitzt auf der Anklagebank, Margarida befindet sich etwa 8.000 Kilometer entfernt in São Paulo. Ihr Ehemann wird in drei Punkten angeklagt: der Beherbergung einer Person ohne Papiere, Beherbergung dieser Person zum Zwecke der finanziellen Ausnutzung und der Zufügung schwerer Körperverletzungen. Um einer Strafe zu entgehen, bietet Renê an, Hilda nachträglich etwa 4.000 US-Dollar an Lohn zu bezahlen, was 41,7 Cent pro Stunde bei einer 40-Stunden-Woche entspräche – ein Satz, der angeblich auf brasilianischen Standards basiere.

In dem Prozess kommt auch Hilda zu Wort. Sie beschreibt die unwürdigen und brutalen Bedingungen im Haus der Bonettis. Und sie erzählt von ihrer Kindheit als Afrobrasilianerin und damit als Nachfahrin der afrikanischen Sklaven, die zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert nach Brasilien verschleppt worden sind.

Ihre Aussagen entsetzen nicht nur die Richterin. Renê Bonetti streitet indes alles ab und nennt Hilda eine Lügnerin. Er wird zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

FBI beisst bei der brasilianischen Polizei auf Granit

Kurz nach der Verurteilung von Renê Bonetti wendet sich das FBI an die brasilianischen Behörden, um Margaridas Auslieferung an die USA zu beantragen. Doch die Polizei in São Paulo erweist sich als wenig hilfreich: Sie behauptet, Margarida sei nicht auffindbar.

Nur durch einen Zufall kommt ans Licht, wo sich Margarida aufgehalten haben dürfte. Nach Veröffentlichung von Chico Felittis Podcast meldet sich ein junger Mann bei dem Journalisten. Fábio behauptet, bei Margarida müsse es sich um seine rätselhafte Nachbarin aus Campinas handeln. Die Stadt liegt rund 100 Kilometer von São Paulo entfernt. Dort habe sie jahrelang in einem heruntergekommenen Anbau gelebt und Müll gesammelt.

Ihm und den anderen Nachbarn sei die seltsame Aufmachung der Frau aufgefallen. Sie habe schäbige Kleidung getragen und sich eine dicke, weisse Paste ins Gesicht geschmiert - im Nachhinein betrachtet eine gute Art, sich zu verstecken.

2005 wird Renê frühzeitig entlassen und nimmt seine Arbeit in den USA wieder auf. Auch Margarida taucht nun wieder auf und zieht zurück in das Haus in Higienópolis. Ex-Nachbar Fábio vermutet, sie habe die Verjährungsfrist ihres Verbrechens abwarten wollen. Die Bonettis sind mittlerweile geschieden, der Sohn ist untergetaucht.

Die weisse Paste trägt Margarida übrigens bis heute im Gesicht. Fans jubeln, wenn sich die heute knapp 70-Jährige am Fenster zeigt und ihren Fans wie ein Geist aus der alten Villa herauswinkt. Ihre Geschichte hat sich über die sozialen Medien verbreitet und ist zu einer Art Faszination geworden, Margaridas Fans kleiden sich wie sie und schminken ihre Gesichter weiss.

Doku und Podcast über Margarida Bonetti zeigen auch ein strukturelles Problem auf

In der Netflix-Doku ist die Originalstimme von Margarida zu hören, wie sie sich in einem Telefon-Interview mit abstrusen Ausreden vor Chico Felitti zu rechtfertigen versucht. Auf keinen Fall sei sie vor der Polizei geflüchtet, vielmehr sei ihre Mutter krank geworden, und sie selbst dann auch. Auch sei es kein gewöhnlicher Keller gewesen, in dem Hilda gehaust habe, sondern ein Souterrain wie jene, in denen auch viele Jugendliche in den USA leben würden. Ausserdem habe Hilda zum Duschen nach oben kommen können.

Felittis Podcast schlug auch deshalb Wellen, weil beileibe nicht alle seine Entrüstung über die Behandlung von Hilda teilten. Er wurde auf der Strasse angefeindet, wie er die Familie Bonetti nur so in den Schmutz ziehen könne. Sie seien gute Menschen gewesen und hätten nichts Schlechtes getan. Auch der Küster einer Kirche, der die Familie seit über sechs Jahrzehnten kennt, hält Renê Bonetti noch immer für einen guten Menschen, für jemanden, der "nicht für etwas bestraft werden sollte, was alle tun". Viele Menschen hätten in derselben Nachbarschaft Menschen versklavt.

Brasiliens koloniales Erbe

Bis heute prägt die koloniale Vergangenheit die Gesellschaft Brasiliens. Erst 1888 – als letztes Land der Welt – schaffte Brasilien die Sklaverei offiziell ab. Doch es gibt immer noch Formen von Zwangsarbeit, vorwiegend in der Landwirtschaft, die Dunkelziffer ist hoch.

Der Fall Bonetti hat neben dem Internet-Hype aber auch zu einer neuen Art von Sensibilisierung gegenüber Menschen geführt, die möglicherweise in sklavenähnlichen Umständen leben. Seit der Ausstrahlung des Podcasts ist die Anzahl der Beschwerden über missbräuchliche Arbeitspraktiken und häusliche Sklaverei in Brasilien gestiegen.

Empfehlungen der Redaktion

Grosse Veränderungen sind bisher aber ausgeblieben. Thiago Amparo, brasilianischer Menschenrechtler und Professor für internationales Recht, fasst es laut der "Washington Post" so zusammen: "Es ist die Geschichte eines Landes, das rassistisch motivierte Gewalt als Unterhaltung betrachtet – und das auf sehr sadistische Weise geniesst."

Verwendete Quellen

Teaserbild: © Reuters