Wo ist Scarlett Salice? Auch fünf Jahre nach dem letzten Lebenszeichen der damals 26-Jährigen bleibt diese Frage unbeantwortet. Am 10. September 2020 verschwindet die Studentin während einer Wanderung im Schwarzwald spurlos. Wurde sie Opfer eines Verbrechens? Kam sie bei einem tragischen Unfall ums Leben? Es gibt verschiedene Theorien, doch bis heute ist ihr Schicksal ungewiss.

Es ist kurz nach 10 Uhr, als Scarlett Salice am 10. September 2020 eine Edeka-Filiale in Todtmoos im Hochschwarzwald betritt. Der rote Wanderrucksack fällt an der zierlichen, 1,60 Meter grossen und 50 Kilogramm leichten blonden Frau besonders auf.

Scarlett kauft Lebensmittel für ihre bevorstehende Wanderung. Eine Überwachungskamera zeichnet die letzten bekannten Bilder von ihr auf.

Scarlett verschwindet auf der letzten Etappe des Schluchtensteigs spurlos

Nach dem Einkauf kontaktiert sie ihren Freund Joey in China per Videocall. Später erklärt dieser gegenüber der Polizei, Scarlett habe bedrückt gewirkt – was jedoch eine Fehlwahrnehmung aufgrund der schlechten Verbindungsqualität gewesen sein könnte. Anschliessend bricht sie zur letzten Etappe des Schluchtensteig-Fernwanderwegs auf, die von Todtmoos nach Wehr führt. Doch mit grosser Wahrscheinlichkeit hat Scarlett den Zielort nie erreicht. Sie wird nie wieder gesehen. Was ist geschehen?

Scarlett wächst zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester bei ihren Eltern in Paderborn auf und zieht später ins nahegelegene Bad Lippspringe. Ihr Vater Ralf beschreibt sie in mehreren Interviews als lebensfrohe junge Frau, die gerne die Welt bereist.

Im November 2019 lernt sie in Myanmar ihren Freund Joey aus China kennen, mit dem sie vier Monate lang durch Südostasien reist und gemeinsame Pläne schmiedet. Als Corona 2020 weite Teile des öffentlichen Lebens stilllegt, kehrt sie notgedrungen nach Deutschland zurück. Im Juli bricht sie gemeinsam mit ihrer Mutter zum Jakobsweg auf. Dort bekommen beide von anderen Pilgern den Tipp, den rund 120 Kilometer langen Schluchtensteig im Schwarzwald auszuprobieren.

Im September setzt die Studentin dies in die Tat um. Sie bietet über eine Mitfahrzentrale eine Fahrt an, nimmt eine Frau und einen Mann mit zum Startpunkt nach Stühlingen. Dort wird später auch ihr Auto gefunden.

Scarlett wandert allein. Sie übernachtet teils im Zelt im Wald, teils in günstigen Hotels. Mit Familie und Freunden bleibt sie über ihr Handy per Nachrichten in Kontakt. Darin berichtet sie unter anderem, drei Wanderern begegnet zu sein, mit denen sie gezeltet habe. Zufällig trifft sie diese in Todtmoos erneut und geht am Abend vor ihrem Verschwinden mit ihnen essen.

Am 10. September steht die 22 Kilometer lange Abschlussetappe von Todtmoos nach Wehr auf dem Programm. Sie gilt nicht als besonders gefährlich, schon gar nicht für eine erfahrene Wanderin wie Scarlett. Dennoch verliert sich hier ihre Spur.

Hunderte Personen suchen nach Scarlett

Am Abend des Folgetags ruft ihre Freundin Vanessa bei der Familie an, weil Scarlett nicht wie vereinbart bei ihr erschienen ist. Eigentlich wollte Scarlett an diesem Tag zu ihr nach Mainz reisen, hatte sich zuvor nach Bus- und Zugverbindungen erkundigt und ihrer Freundin geschrieben, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen freue. Die Familie kann Scarlett ebenfalls nicht erreichen und ist beunruhigt. Einen weiteren Tag später meldet Scarletts Mutter ihre Tochter als vermisst.

Die Polizei nimmt die Vermisstenmeldung sofort ernst und beginnt, das Gebiet zwischen Todtmoos und Wehr abzusuchen. Zunächst liegt die Vermutung nahe, Scarlett sei abgestürzt. Mehrere Hundert Einsatzkräfte von Feuerwehr, Bergwacht und Technischem Hilfswerk sind im Einsatz. Drohnen, Wärmebildkameras, Suchhunde und Hubschrauber sollen helfen, die junge Frau in dem unübersichtlichen Gelände mit steilen Hängen und Felswänden zu finden. Doch die Suche bleibt erfolglos. Selbst ein simuliertes Funknetz liefert keine Spur – Scarletts Handy wählt sich nicht ein.

Auch Scarletts Eltern reisen an den Schluchtensteig, dürfen sich der Suche jedoch nicht direkt anschliessen. Die Spürhunde könnten durch die Blutsverwandtschaft irritiert werden. "Wir waren zur Untätigkeit verdammt", berichtet Vater Ralf Salice im Interview mit "Lokalzeit MordOrte", einer True-Crime-Reihe des WDR.

Nach zwei Wochen ohne Ergebnis wird die Suche vorerst eingestellt. Zwei Monate später nehmen die Ermittler sie wieder auf: Entlaubte Bäume ermöglichen nun einen besseren Blick auf das Gelände. Doch auch jetzt bleibt der Einsatz erfolglos. Die Polizei geht von einem tragischen Unglück aus.

Martin Schwenninger, knapp 20 Jahre Ranger in der Wutachtschlucht, die Teil des Fernwanderwegs ist, hegt jedoch Zweifel an der Unfalltheorie. Bei "Lokalzeit MordOrte" betont er: "Wer Wandererfahrung hat, kann diesen Weg locker laufen." Ist Scarlett vielleicht doch Opfer eines Verbrechens geworden?

Spürhunde nehmen an einem Wanderparkplatz Witterung auf

Bereits zwei Wochen nach ihrem Verschwinden gründen Familie und Freunde auf Facebook eine Seite mit dem Namen "Bitte findet Scarlett". Mitglieder dieser Gruppe durchsuchen regelmässig das Wandergebiet nach der jungen Frau. Mehr als ein Jahr später organisiert die Gruppe privat eine Hundestaffel, nachdem eine Zeugin angibt, Scarlett damals auf einem Wanderparkplatz rund sieben Kilometer von Todtmoos entfernt gesehen zu haben. Die Hunde nehmen dort tatsächlich Witterung auf, doch die Spur verliert sich an genau diesem Parkplatz auch wieder.

Ralf Salice glaubt mittlerweile, dass seine Tochter an dieser Stelle in ein Auto gestiegen ist. Auf der ersten Hälfte der Etappe hätten viele Personen Scarlett mit ihrem roten Wanderrucksack – der ebenfalls bislang nicht gefunden wurde – gesehen, danach jedoch nicht mehr. Auch die an Häusern angebrachten Kameras entlang der Route hätten sie nicht aufgezeichnet. Wurde Scarlett womöglich gegen ihren Willen in ein fremdes Auto gezerrt?

"Diese Gedanken machen einen manchmal fertig, weil man einfach damit rechnen muss, dass irgendjemand sie aus dem Leben gerissen hat, ihre ganzen Träume zerstört hat, unser Leben sehr stark beeinflusst hat. Und er lebt weiter", sagt Ralf Salice bei "MordOrte". Er gibt die Hoffnung nicht auf, seine Tochter eines Tages wieder in die Arme schliessen zu können.

Viele Hinweise, aber keine konkrete Spur

Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen. In dieser Zeit hat es immer wieder neue Entwicklungen gegeben. Im September 2021 leitet die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen ein Todesermittlungsverfahren ein, nachdem eine unbekannte Person überraschend Anzeige erstattet hat. In Deutschland ist die Staatsanwaltschaft in einem solchen Fall verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen.

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Im Juni 2022 wird der Fall in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY… Vermisst" behandelt. Es gehen 141 Hinweise ein, doch auch diese führen ins Leere. Insgesamt summieren sich die Hinweise auf mehr als 500. Im Sommer 2022 findet eine Wanderin auf der letzten Etappe eine Sonnenbrille. Es ist vermutlich dasselbe Modell, das Scarlett während ihrer Wanderung getragen hat. Die Kriminaltechnik untersucht die Brille auf DNA-Spuren, findet jedoch keine. Im Februar 2023 wird das Todesermittlungsverfahren eingestellt, da sich keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen ergeben haben.

Die Ermittlungen laufen weiter. Für die Familie bleibt die Hoffnung auf ein Wunder. Am 22. September würde Scarlett 32 Jahre alt werden. Zum 31. Geburtstag richtete ihre Mutter in der Facebook-Gruppe "Bitte findet Scarlett" rührende Worte an ihre Tochter: "Liebe Scarlett, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Normalerweise würde ich dir heute wieder eine Kürbissuppe machen, stattdessen müssen wir nun schon das vierte Mal deinen Geburtstag ohne dich verbringen. Wie sehr wünschte ich mir, dass du wieder da wärst." Es bleibt zu hoffen, dass dieser Wunsch eines Tages in Erfüllung geht.

Hinweise zur Vermissten

  • Wer Hinweise zum Verbleib von Scarlett Salice geben kann, wird gebeten, sich bei der Kriminalpolizei Waldshut-Tiengen unter der Telefonnummer (+49) 07741/83160 zu melden.

Verwendete Quellen