In der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 2009 stürzt ein Airbus A330 auf dem Flug von Rio de Janeiro nach Paris über dem Atlantik ab. Alle 228 Menschen an Bord sterben. Mehr als 16 Jahre nach dem Unglück sehnen sich die Angehörigen der Opfer weiterhin nach Gerechtigkeit – die ihrer Ansicht nach der am 29. September beginnende Berufungsprozess endlich bringen soll.
Es ist das schwerste Unglück in der zivilen Luftfahrt Frankreichs: Am 31. Mai 2009 startet der Air-France-Flug 447 um kurz nach 19 Uhr Ortszeit vom Flughafen Rio de Janeiro in Richtung Paris-Charles-de-Gaulle. Die 216 Passagiere, neun Flugbegleiter und drei Piloten an Bord des Airbus A330 erreichen die französische Hauptstadt jedoch nie, die Maschine stürzt in den Atlantik. Unter den Opfern sind unter anderem 72 Franzosen, 58 Brasilianer und 28 Deutsche.
Exakt vier Stunden nach dem Start befindet sich der Linienflug in der innertropischen Konvergenzzone, wo schwere Gewitter häufig auftreten. Etwa elf Minuten später zeichnet der Stimmenrekorder das letzte Lebenszeichen der Piloten auf, die von den plötzlich auftretenden Problemen der Maschine überfordert sind.
Zu Beginn der Turbulenzen ist Kapitän Marc Dubois nicht im Cockpit: Er wird kurz zuvor von einem seiner beiden Kopiloten, David Robert, abgelöst und legt, wie vereinbart, eine Ruhepause ein. Robert überwacht die Systeme, während der dritte Pilot, Pierre-Cédric Bonin, das Flugzeug steuert.
Dramatische Minuten im Cockpit
Der Stimmenrekorder, der knapp zwei Jahre später in 4.000 Metern Tiefe des Atlantiks gefunden wird, dokumentiert die dramatischen letzten Momente an Bord. Etwa vier Minuten vor dem Aufprall auf das Meer bemerken Robert und Bonin, dass die Geschwindigkeitsanzeige ausgefallen ist. Es folgt eine Reihe von Ereignissen, die die Piloten unter Druck setzt. "Verdammt, ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug! Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug", ruft Bonin unter anderem, wie aus einem Transkript der französischen Flugunfalluntersuchungsbehörde BEA hervorgeht.
Kurz darauf kehrt Kapitän Dubois ins Cockpit zurück, verschafft sich zunächst einen Überblick über die Situation und weist Bonin darauf hin, nicht die ganze Zeit hochzuziehen. Robert übernimmt die Steuerung und leitet einen Sinkflug ein. 40 Sekunden später zeichnet der Stimmenrekorder noch Bonins Satz auf: "Verdammt, wir werden aufschlagen … Scheisse, das ist nicht wahr!". Augenblicke später endet die Aufnahme.
In insgesamt fünf Phasen suchen Teams nach den Leichen, dem Wrack und den Flugschreibern. Am 3. April 2011 entdecken sie das Wrack, und am 27. April teilt die BEA mit, dass das Chassis des Flugdatenschreibers gefunden wurde. Am 1. Mai wird das dazugehörige Speichermodul mit den aufgezeichneten Daten und einen Tag später auch der Stimmenrekorder geborgen. Aus diesen Funden lassen sich die Ursachen des Unglücks rekonstruieren, die 2012 in einem Abschlussbericht veröffentlicht werden.
Vereiste Pitot-Sonden ursächlich für den Absturz
Dem Bericht zufolge leiteten vereiste Pitot-Sonden, die für die Messung der Fluggeschwindigkeit zuständig sind, den Absturz ein, indem sie fehlerhafte Geschwindigkeitsanzeigen lieferten. Die Sonden fielen zeitweise aus, vermutlich aufgrund einer Verstopfung durch Eiskristalle. Der Autopilot schaltete sich ab, und das Flugzeug wechselte in den Steuerungsmodus "Alternate Law", bei dem bestimmte automatisierte Schutzfunktionen nicht mehr aktiv sind. Die Piloten mussten in grosser Höhe manuell fliegen, waren darauf jedoch unzureichend vorbereitet. Verwirrt durch widersprüchliche Anzeigen zog Bonin das Flugzeug wiederholt nach oben, während Warnungen vor einem Strömungsabriss weitgehend unbeachtet blieben. Über drei Minuten verharrte die Maschine in diesem gefährlichen Zustand, bevor sie in den Atlantik stürzte.
Unmittelbar nach dem Unglück mischte sich in die Trauer um die Opfer auch die Frage nach den Schuldigen – und der Jahre später veröffentlichte Abschlussbericht lieferte neue Nahrung dafür. War es ein reines Versagen der Piloten im Cockpit, oder trugen auch Versäumnisse von Air France und Airbus zum Unglück bei?
Abgestürzter Flug AF447: Die Frage nach der Schuld
Nach jahrelangem juristischen Tauziehen weisen Ermittlungsrichter 2019 ein Verfahren zunächst ab.
Drei Jahre später beginnt dann aber doch ein Prozess mit beinahe 500 Nebenklägern. Der Vorwurf gegen Air France und Airbus lautet: fahrlässige Tötung. Der Staatsanwaltschaft zufolge unterschätzte Airbus die möglichen Folgen eines Ausfalls der Pitot-Sonden. Air France wurde vorgeworfen, ihre Piloten nicht ausreichend geschult und unzureichend auf Extremsituationen wie jene beim Unglücksflug vorbereitet zu haben.
Am 17. April 2023 entscheidet ein Pariser Berufungsgericht, dass Airbus und Air France keine Schuld nachzuweisen sei. Die Vorsitzende Richterin erklärt damals, dass die Unternehmen zwar teilweise nachlässig oder unvorsichtig gehandelt hätten, ein eindeutiger Kausalzusammenhang mit dem Unglück sich jedoch nicht herstellen lasse.
Zehn Tage nach dem Urteil kündigt die Generalstaatsanwaltschaft an, Berufung einzulegen. Der Berufungsprozess findet nun vom 29. September bis zum 27. November dieses Jahres statt.
Neue Hoffnung für die Hinterbliebenen
Für die vielen Hinterbliebenen der Opfer ist dies mehr als 16 Jahre nach dem Unglück ein erneuter Hoffnungsschimmer, aus ihrer Sicht endlich Gerechtigkeit zu erfahren. Geld spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle: Airbus und Air France droht maximal eine Geldstrafe von jeweils 225.000 Euro. Und die meisten Hinterbliebenen hatten bereits vor Jahren Einigungen mit Air France und den Versicherungen erzielt.
Danièle Lamy, Mutter eines verstorbenen Passagiers, ist entschlossen, beim neuen Verfahren die Schuld der Unternehmen feststellen zu lassen. Gemeinsam mit ehemaligen Piloten dokumentiert sie in einem Blog die Fehler, die ihrer Meinung nach von Airbus und Air France begangen wurden. "Das ist der Kampf meines Lebens. So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. So hatte ich mir ganz bestimmt nicht meinen Ruhestand vorgestellt. Aber leider haben die Ereignisse dazu geführt, dass ich hineingezogen wurde und dass ich die Dinge bis zum Ende durchziehe und auch hier bis zum Ende gehen werde", versicherte sie im Gespräch mit dem französischen Nachrichtensender "France Info".
Rechtsanwalt Alain Jacubowicz, der einen französischen Opferverband vertritt, betont: "Es sind die aufeinanderfolgenden Fehler und Versäumnisse: die Geschwindigkeitsmesser nicht zu ersetzen, die Piloten nicht ausreichend zu schulen … das ist eine Kette von Faktoren. Und die Aufgabe von so hoch spezialisierten Profis wie Air France und Airbus ist es gerade, solche Dinge vorherzusehen. Das haben sie nicht getan – für uns ist das ein strafbares Fehlverhalten."
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Es bleibt die Frage, ob das Gericht dies ebenfalls so sieht – oder ob die Hinterbliebenen weiterhin mit dem lähmenden Gefühl leben müssen, dass niemand für den Tod ihrer Liebsten zur Rechenschaft gezogen wird.