In Nepal haben sich teils tödliche Proteste vor allem junger Menschen so hochgeschaukelt, dass die Regierung gestürzt wurde. Nun soll ein Neuanfang gelingen. Einfach wird das allerdings nicht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Felix Lill sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist wieder ruhiger geworden in Kathmandu. Und es scheint, als würde sich gerade eine neue Ordnung etablieren. Mit Sushila Karki, zuvor Vorsitzende des Obersten Gerichts und erklärte Korruptionsgegnerin, ist eine über Parteigrenzen hinweg geschätzte Persönlichkeit zur Übergangspremierministerin gewählt worden.

Karkis Wahl ist bemerkenswert: Sie geschah online per Live-Abstimmung. Ein Novum, nicht nur in Nepals Politik.

Die Online-Wahl wirkte wie ein erster Triumph der zehntausenden, vor allem jungen Menschen, die Anfang September auf die Strasse gegangen waren. Es kam zu blutigen, zum Teil tödlichen Protesten. Die Demonstrierenden fühlten sich provoziert, ja entmündigt, nachdem die Regierung beschlossen hatte, soziale Medien zu sperren, darunter WhatsApp, Youtube, Signal, X und Facebook.

Wenig später wurde die Sperre wieder aufgehoben. Am 12. September wurde Karki gewählt – es wurde also über digitale Kanäle entschieden, wer die nächsten politischen Schritte unternehmen soll. Und jetzt?

In Nepal herrscht schon lange Unzufriedenheit

Die Übergangsregierung um Sushila Karki steht vor riesigen Herausforderungen. "Korruption, Vetternwirtschaft und die Blockadehaltung politischer Eliten" hatten die Proteste ausgelöst, wie Natalia Figge im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt. Sie leitet das Kathmandu-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Dass die Unzufriedenheit noch immer so gross ist, zeugt vom Scheitern eines zehn Jahre alten Projekts. 2015 hatte sich das 30-Millionen-Einwohner-Land Nepal eine Verfassung gegeben, die eigentlich Stabilität und Fortschritt sichern sollte. Heraus kam ein föderales System mit sieben Provinzen und einer Trennung von Kirche und Staat.

Die Verfassung löste eine Übergangsordnung ab, die 2006 nach einem Bürgerkrieg in Kraft getreten war. 2008 wurde die Monarchie in Nepal abgeschafft. Begleitet wurden diese Schritte häufig mit gewalttätigen Protesten.

Die gerade erst verglommenen Proteste könnten auch diesmal erneut aufflammen. Nämlich dann, wenn die neue Ordnung nicht zügig spürbare Verbesserungen bringt.

Nepal grenzt im Norden an China grenzt und im Süden an Indien. Das mittlere Alter der Bevölkerung im Land beträgt rund 25 Jahre, ein grosser Teil der Nepalesinnen und Nepalesen gehört also der Generation Z an. Und allzu viel Geduld haben viele von ihnen nicht.

"Viele Jugendliche empfinden, dass Politik nicht mehr im Interesse des Landes gestaltet wird, sondern nur noch dem Überleben der Elite und ihrer Parteiführungen dient", sagt Natalia Figge. "Für viele Familien bleibt Migration ins Ausland die einzige Perspektive – was die Entfremdung zwischen Jugend und politischem System noch verschärft."

Junge Bevölkerung wird zur entscheidenden Kraft in Nepal

Nun sind diese Jahrgänge, die um die Jahrtausendwende zur Welt gekommen sind, zu einer treibenden Kraft in der Politik des Landes geworden. Das wurde deutlich, als ihnen eben mit einem Verbot diverser sozialer Medien der Saft abgedreht werden sollte – und auf den Strassen Proteste ausbrachen.

Auch ein wenig souveränes Auftreten der Sicherheitskräfte sorgte dafür, dass mindestens 72 Menschen ums Leben kamen, mehr als 2.100 verletzt wurden. Premierminister Khadga Prasad Oli trat am 9. September zurück – auch nachdem das Parlament angezündet worden war.

Im Land schafft der plötzliche Umbruch zumindest Hoffnung. Als eine "Revolution der Massenfrustration" bezeichnete die nepalesische Politikwissenschaftlerin Sucheta Pyakurel den Umsturz gegenüber der Deutschen Welle.

Sie beobachtet "einen Zusammenhang zwischen internen und externen Einflüssen". Nepal habe sowohl die Kontrolle über die staatlichen Institutionen verloren als auch über die Wirtschaft. "Viele junge Menschen sind deswegen auf der Suche nach Arbeit und gehen ins Ausland", sagt sie.

Mit digitalen Mitteln lässt sich die Politik in der Heimat allerdings auch aus dem Ausland beeinflussen. Proteste auf Kathmandus Strassen sowie Konzepte für den Widerstand wurden etwa über Discord entworfen, eine Plattform, die sich vorrangig an die Gamingszene richtet, aber auch als Organisationstool dient.

In den Augen von Natalia Figge hat sich über die vergangenen Wochen in Nepal ein Paradigmenwechsel in der Politik ergeben. "Legitimität entsteht nicht mehr über Parteiapparate, sondern über kollektive digitale Prozesse. Im Unterschied zu früheren Bewegungen, die stark ideologisch geprägt waren und eng mit Parteien verbunden blieben, richtet sich die Gen Z stärker auf konkrete Missstände, Transparenz und politische Teilhabe."

Hoffnung auf Veränderung mit digitalen Mitteln

Kann eine tech-affine junge Generation positiven Einfluss auf das politische Geschehen nehmen? Die Hoffnung, digitale Medien könnten die Demokratie befruchten, ist nicht neu. Der "Arabische Frühling", eine Welle von Massenprotesten in mehreren arabischen Ländern, begann 2011 mit der Vernetzung von Menschen über soziale Medien. Doch Erfolge, was Mitbestimmung und Freiheit angeht, sind rar geblieben.

Ähnlich war es in den vergangenen Jahren in Südostasien. Als 2020 die Regierung Chinas entschied, den gesetzlich garantierten Autonomiestatus von Hongkong de facto aufzulösen, wurden online organisierte Massenproteste losgetreten – und direkt niedergeschlagen. Heute sind aus Hongkong kaum Widerworte zu hören.

In Myanmar, wo sich 2021 das Militär an die Macht putschte, konnte eine digital-affine Generation junger Menschen zwar die Masse mobilisieren, doch heute steckt das Land in einem Bürgerkrieg. Und auf den Philippinen nutzten Kandidaten die Kraft sozialer Medien, um Trolle und Influencer zu bezahlen und dank der Streuung von Fake News die Wahl zu gewinnen.

Empfehlungen der Redaktion

Natalia Figge sieht die Entwicklung in Nepal trotz der durchwachsenen Beispiele aus anderen Ländern optimistisch: "Nepal zeigt, dass junge Generationen auch in fragilen Demokratien Wege finden, ihre Stimme hörbar zu machen." Wobei die FES-Expertin auch betont: "Entscheidend wird sein, ob politische Systeme diese Energie konstruktiv aufnehmen – sonst könnte die Distanz zwischen Jugend und politischen Institutionen weiter zunehmen."

Verwendete Quellen