Ein Jahr nach den grössten Protesten, die Kenia je erlebt hat, gehen die Menschen erneut auf die Strassen. Die Generation-Z verlangt den Politikwandel. Und riskiert dafür alles.
Ein Strassenhändler, dem die Polizei bei einer Demonstration in den Kopf schiesst. Ein Lehrer, der einen Tag nach seiner Verhaftung in Polizeigewahrsam stirbt. Und eine ganze Generation, die gegen die Regierung auf die Strassen geht. Kenias Jugend ist wütend. Ein Jahr nach den grössten Protesten, die dieses Land je erlebt hat, formiert sich erneut Widerstand – gegen Polizeigewalt, Willkür und Geldverschwendung seitens der Regierung.
"Ursprünglich ging es der jungen Generation um geplante Steuererhöhungen. Diese stiessen auf grosse Gegenwehr, weil die Menschen ohnehin mit gestiegenen Lebenshaltungskosten und Inflation zu kämpfen hatten", sagt Mathias Kamp, Leiter des Auslandsbüros Kenia der Konrad-Adenauer-Stiftung, unserer Redaktion.
Betroffen waren Hygieneprodukte, Grundnahrungsmittel und die Krankenhausversorgung – und das, während unter anderem die hohen Gehälter der Parlamentarier unangetastet blieben. Ziel der Regierung war es, die Staatsschulden eindämmen, die das Land laut "Tagesschau" unter anderem beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank hat.
Für die Bevölkerung ergab sich daraus folgendes Bild: "Die Menschen hatten das Gefühl, dass die Regierung den Staatshaushalt in Zeiten hoher Verschuldung auf Kosten der einfachen Bevölkerung konsolidieren wollte", so der Politikwissenschaftler. Die weiterhin überwiegend friedlichen Proteste wandelten sich in eine generelle Ablehnung der Regierung.
Proteste gegen Regierung und Polizeigewalt – Botschaften schalten sich ein
Am 25. Juni 2024, dem Tag der grössten Proteste, eskalierte die Situation schliesslich: Demonstrierende stürmten das Parlamentsgebäude, die Polizei schoss in die Menge, zahlreiche Menschen starben, wurden verletzt oder inhaftiert. Das Gesetz zur Steuererhöhung wurde nicht unterschrieben.
Präsident William Ruto versprach Verbesserungen und löste sein Kabinett fast vollständig auf. Doch die damalige Kehrtwende änderte nichts an der Wut der Jugend. Eine wirkliche Aufarbeitung der Geschehnisse steht bis heute aus.
Infolge der Ausschreitungen warf "Human Rights Watch" Kenia Menschenrechtsverletzungen vor. Zwischen Juni und August 2024 seien vermeintliche Anführer der Proteste entführt, willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet worden.
Auch die NGO "Kenya Human Rights Commission" sprach von knapp 160 Fällen mutmasslicher aussergerichtlicher Hinrichtungen und gewaltsamer Entführungen im Jahr 2024. Allein seit Ausbruch der Proteste seien in dem ostafrikanischen Land mehr als 60 Menschen gestorben.
Botschaften verschiedener Länder, darunter auch Deutschland, zeigten sich damals "zutiefst besorgt über die Gewalt, die während der jüngsten Proteste in vielen Teilen des Landes zu beobachten war, und besonders schockiert über die Szenen vor dem kenianischen Parlament".
Man bedaure den Verlust von Menschenleben, die unter anderem durch den Einsatz scharfer Waffen verursacht worden seien. Die kenianische Verfassung garantiere das Recht auf friedliche Proteste.
Todesfall Ojwang in Polizeigewahrsam: Erneute Proteste gegen Regierung in Kenia
Nach den Eskalationen im Sommer 2024 flauten die Demonstrationen zunächst ab. "Zwischenzeitlich war unklar, ob die Gen-Z-Bewegung noch in der Lage ist, Massenproteste zu mobilisieren. Man hatte zwar angekündigt, zum Jahrestag der gewaltsamen Eskalation der Proteste am 25. Juni wieder auf die Strassen zu gehen, aber das grosse Momentum schien zu fehlen", berichtet Mathias Kamp aus der Hauptstadt Nairobi. Bis zu dem Tod eines regierungskritischen Bloggers und Lehrers in Polizeigewahrsam.
Albert Ojwang wurde am 7. Juni 2025 von Polizeikräften verhaftet. Der Vorwurf: Er habe einen der Polizeichefs auf Social Media beleidigt. Das berichtete unter anderem die BBC. Eine Nacht später war der 31-Jährige tot. "Er blutete aus der Nase und hatte Prellungen am Oberkörper und im Gesicht", sagte sein Vater dem britischen Fernsehsender.
Erneut heftige Zusammenstösse mit der Polizei
Der Tod von Ojwang löste Entsetzen aus. Bei den anschliessenden Protestmärschen trugen Menschen Banner mit den Slogans "Stop Killing Us" und "Ruto Must Go". Erneut gab es heftige Zusammenstösse mit der Polizei. In mehreren Orten kam es laut "Tagesschau" zu Plünderungen, Medien wurde die Berichterstattung untersagt. Amnesty International Kenya sprach von mehreren Toten.
Ruto selbst nannte den Tod von Ojwang ein "tragisches Ereignis, das von der Polizei verursacht wurde". Das Parlament lud laut BBC den Polizeichef, den Leiter der Kriminalpolizei, den Innenminister sowie die Unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde zu einer Anhörung ein.
Eine Polizeierklärung, Ojwang habe sich den Kopf an der Zellenwand eingeschlagen, wurde zurückgezogen. Eine Obduktion schloss zudem aus, dass Ojwang Suizid begangen haben könnte und die Untersuchung der Aufsichtsbehörde verwies auf zwei Zeugen, die in der Nacht laute Schreie gehört haben wollen. Ausserdem sei die Videoüberwachung ausgeschaltet gewesen, so der Fernsehsender. Drei Polizisten wurden verhaftet.
Präsident Ruto als einstiger Hoffnungsträger mit grosser Fallhöhe
Es sind schockierende Entwicklungen in einem Land, das lange als demokratische Bastion in Afrika galt. William Ruto, seit 2022 im Amt, war einst als Hoffnungsträger angetreten. Als Mann des Volkes. In Europa wurde der Kenianer als progressiver Politiker wahrgenommen. Zudem ist Kenia ein wichtiger Partner des Westens und offiziell eine Präsidialdemokratie.
Doch unter der Oberfläche brodelte es in Kenia schon seit geraumer Zeit. Auch die Vorwürfe unverhältnismässiger Polizeigewalt sind nicht neu. Insbesondere junge Menschen leiden unter Arbeitslosigkeit, steigenden Lebenshaltungskosten und Perspektivlosigkeit.
Rutos damalige Versprechen einer besseren Zukunft hatten eine enorme Fallhöhe, meint Mathias Kamp. "Umso grösser die Enttäuschung, als sich abzeichnete, dass diese Versprechen nicht einzuhalten sind.
Statt Entlastungen, besseren Sozialleistungen, Arbeitsplätzen und bezahlbarem Wohnraum hatte man es plötzlich mit gestiegenen Steuern und Sozialabgaben zu tun", sagt er. Besonders Kenias Jugend sei frustriert über den teuren Staatsapparat, Korruption und die Bereicherung der Eliten. Sie wirft der Regierung vor, diese Probleme nicht aktiv anzugehen.
Hoffnung auf anstehende Wahlen 2027
Ob die Jugendbewegung tatsächlich etwas bewegen kann, ist offen. Doch sie ist zahlreich, Kenia ist ein sehr junges Land. Die anstehenden Wahlen 2027 könnten Veränderungen bringen. Für Ruto wird es kaum möglich sein, die Jugend zurückzugewinnen. Doch auch die Oppositionsparteien geniessen kein Vertrauen – sie gelten ebenfalls als Teil des alten Systems, sagt Kamp.
Eins haben die Proteste jedoch bereits jetzt deutlich gemacht: Den aktuellen Status quo will die junge, aufgeklärte und vernetzte Generation nicht weiter akzeptieren. Sie wollen einen Politikwandel. Die Wut bleibt.
Zum Gesprächspartner:
- Mathias Kamp ist Leiter des Auslandsbüros Kenia der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit 2020 ist er Referent in der Abteilung Subsahara-Afrika. Zuvor leitete er für fünf Jahre das Auslandsbüro für Uganda und Südsudan mit Sitz in Kampala. Er hat einen Masterabschluss in Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Mathias Kamp
- Amnesty International: Statement on the loss of life and injuries as the nation commemorates the first anniversary of 25 June 2024
- BBC: Why the death of a blogger has put Kenya's police on trial
- BBC: Kenyan vendor shot by police during protests dies after life support switched off
- Human Rights Watch: Kenya: Security Forces abducted, killed protesters
- Gov.UK: Joint Statement by Ambassadors and High Commissioners in Kenya on Public Protests
- Kenya Human Rights Commission: Enforced disappearances increased by 450% in 2024
- Tagesschau: Präsident Ruto löst Kabinett auf
- Tagesschau: Die Hoffnung, die in Zorn umgeschlagen ist
- Tagesschau: Tote und Verletzte bei Protesten in Kenia