Einer Studie zufolge spielen Fakten im US-Kongress eine immer kleinere Rolle. Gefühlte Wahrheiten nehmen dagegen zu. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die USA. Forschende haben eine Erklärung.

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Dass in der US-amerikanischen Politik seit Donald Trumps Einzug ins Weisse Haus Fakten keine grössere Rolle mehr spielen, ist weitgehend unbestritten. In den Reden des US-Präsidenten - und auch vieler anderer Politikerinnen und Politiker im amerikanischen Parlament - geht es meist eher um gefühlte Wahrheiten als um gesicherte Erkenntnisse. Doch ist das alles erst seit Trump so?

Nein, so das Fazit einer internationalen Studie unter deutscher Federführung in der Fachzeitschrift "Nature Human Behaviour". Demnach entfernt sich die politische Rhetorik im US-Kongress schon seit etwa einem halben Jahrhundert zunehmend von evidenzbasierten Argumenten. "Persönliche Überzeugungen gewannen allmählich an Bedeutung und wurden zunehmend losgelöst von wissenschaftlichen Fakten präsentiert", erklärt Ko-Autorin Jana Lasser, Professorin für Datenanalyse an der Universität Graz.

Reden und Regierungsleistung scheinen zusammenzuhängen

Für die Analyse untersuchten die Forschenden computergestützt rund acht Millionen Reden aus dem US-Kongress zwischen 1879 und 2022. Ergebnis: Bis Mitte der 1970er Jahre blieb das Verhältnis zwischen Fakten und Intuition in den Vorträgen relativ stabil. Doch seit 1976 ging der Anteil faktenbasierter Sprache kontinuierlich zurück – und sank auf ein historisches Tief in der Gegenwart.

Gleichzeitig stieg die Verwendung intuitiver, erfahrungsbasierter Begriffe. Die Entwicklung betreffe beide Parteien – bei den Republikanern sei der Rückgang seit 2021 aber besonders deutlich.

Der Wandel falle in den USA zeitlich zusammen mit einer zunehmenden politischen Polarisierung, sinkender Gesetzgebungsproduktivität und wachsender sozialer Ungleichheit, bemerkt die Gruppe. "Je mehr die Reden im Kongress sich auf Tatsachen und Fakten stützen anstatt auf Intuition, desto besser fällt die Leistung des Kongresses aus und desto weniger Polarisierung herrscht zwischen den Parteien", betont Co-Autor Stephan Lewandowsky von der Universität Bristol.

"Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion werden verwischt, was nicht nur Polarisierungen Vorschub leistet, sondern auch das öffentliche Vertrauen in die politischen Institutionen untergräbt."

David Garcia

Anekdotische Evidenz ist weit verbreitet

Das Phänomen betrifft nicht allein die USA. "In vielen Demokratien besteht derzeit Sorge um einen Wahrheitsverfall", betont Hauptautor David Garcia von der Universität Konstanz. "Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion werden verwischt, was nicht nur Polarisierungen Vorschub leistet, sondern auch das öffentliche Vertrauen in die politischen Institutionen untergräbt."

Doch wie kommt es dazu? Das Wahrheitsbild von Menschen basiert nicht nur auf gesicherten Erkenntnissen, sondern auch auf gefühlten Wahrheiten, die aus persönlichen Erfahrungen aus dem privaten Umfeld folgen. Das nennt man auch anekdotische Evidenz.

"Wissenschaftliche Studien arbeiten mit Methoden, die für viele nicht gut nachzuvollziehen sind", erläutert Christian Unkelbach vom Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie der Uni Köln. "Anekdoten sind dagegen einfach und schnell zu verstehen."

Einen weiteren Unterschied nennt Pia Lamberty: "Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Dinge systematisch erforscht werden. Bei anekdotischer Evidenz dreht sich das Prinzip quasi um: Aus dem Einzelfall wird auf das Ganze geschlossen und generalisiert", erklärt die Sozialpsychologin und Mitbegründerin des Berliner Thinktanks CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie). "Hier spielen dann oft psychologische Verzerrungen eine Rolle. Das ist eine Form von Denkfehlern, bei denen unsere Haltungen, Gefühle oder Vorlieben unsere Bewertungen beeinflussen."

Ausgeschmückte Geschichten sind leichter vorstellbar als Studien

Die anekdotische Evidenz beruhe auf Erfahrungswissen. "Unsere eigenen Erfahrungen sind für uns erst einmal prägender und greifbarer als eine wissenschaftliche Studie", erläutert Lamberty.

Einen weiteren Aspekt nennt Roland Imhoff von der Universität Mainz: Ausgeschmückte Geschichten seien meist leichter vorstellbar als abstrakte Studienergebnisse, daher könnten sie Menschen mehr emotionalisieren, so der Sozialpsychologe: "Emotionale Inhalte haben privilegierten Zugriff auf unsere begrenzte Aufmerksamkeit."

Emotionen werden ausgenutzt - nicht nur in den USA

Diesen Umstand nutzen Kommunikationsprofis strategisch. Menschen, die gezielt Desinformation verbreiten, arbeiten laut Lamberty oft mit Emotionen, um Aufmerksamkeit zu erregen und so an Reichweite zu gewinnen. "Hyperemotionalisierung wird dann genutzt, um Fakten zur Seite zu drängen. Wer gerade beispielsweise besonders wütend ist, wird sich auch weniger wahrscheinlich mit der faktischen Grundlage der Inhalte auseinandersetzen", so die Forscherin.

Wo steht Deutschland im Vergleich zu den USA?

Desinformation wird nicht nur in der amerikanischen, sondern spätestens seit dem Aufstieg der rechtspopulistischen AfD auch in der deutschen Politik zum Thema. Gerade Populisten nutzten häufig emotionale Narrative und anekdotische Evidenz, erläutert die Sozialpsychologin Fanny Lalot von der Uni Basel. "Dementsprechend wäre es nicht verwunderlich, dass mit dem zunehmenden Erfolg populistischer Parteien in Europa in den vergangenen Jahren auch in Deutschland ein vergleichbarer Trend wie in den USA zu finden ist."

CeMAS-Expertin Lamberty betont allerdings, die Situation in Deutschland scheine noch nicht so dramatisch zu sein wie in den USA. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hierzulande habe einer Studie zufolge Vertrauen in die Arbeit von Forschenden - in rechten Milieus allerdings weniger. "Aber auch hier sollte man sich bewusst machen, dass Wissenschaft immer angegriffen wird, wenn Zeiten autoritärer werden. Dinge können sich auch hier weiter verschieben – gerade bei polarisierenden Themen wie beispielsweise Gesundheit, Kriminalität oder Klimawandel."

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Emotionale Informationen sind im Vorteil

Doch auch unabhängig von der Politik scheinen Emotionalität, Ängste und gefühlte Wahrheiten derzeit an Gewicht zu gewinnen - etwa in sozialen Medien. Diese spielen laut Lamberty eine Rolle bei der Bewertung, "dass die Relevanz von Wahrheit abgenommen hat, da insbesondere reichweitenstarke Accounts oft durch eher polarisierende Positionen auffallen, die ja wiederum förderlich für die eigene Reichweite sind". Repräsentativ für die Haltung der Gesellschaft sei das aber nicht.

Auch Lalots Fachkollegin von der Uni Basel, Melissa Jauch, betont die starke Bedeutung sozialer Medien: "Heutzutage basiert anekdotische Evidenz nicht mehr nur auf dem, was mir selbst oder nahestehenden Personen passiert ist, sondern auch auf dem, was einer x-beliebigen Person auf Social Media passiert ist." Solche Geschichten würden Menschen helfen, "die Welt zu verstehen und Entscheidungen zu treffen".

Lamberty nennt einen wichtigen Vorteil von emotionalen Informationen gegenüber trockenen Fakten: "Werden Informationen besonders emotional dargeboten, fallen Faktendiskussionen natürlich auch schwerer. Gerade wenn es sich um Einzelfalldarstellungen handelt, kann die Frage nach Wahrheit fast amoralisch wirken für die Gegenseite." Wenn Menschen eine Begebenheit oder einen vermeintlichen Fakt besonders emotional schilderten, gehe man intuitiv oft davon aus, dass dies wahr sein müsse.

Geglaubt wird, was zum eigenen Weltbild passt

Der Mainzer Sozialpsychologe Imhoff unterstreicht dies: "Psychologische Studien zeigen, dass die Leichtigkeit, mit der wir uns etwas vorstellen oder es verarbeiten können, von unserem kognitiven System als Hinweisreiz für "vermutlich wahr" interpretiert wird."

Und was Menschen glauben, hängt laut Lalot von einem weiteren Umstand ab: Menschen neigen dazu, sowohl anekdotische als auch wissenschaftliche Evidenz eher dann zu glauben, wenn sie ihre eigenen Ansichten bestätigt. Das betont auch der Kölner Psychologe Unkelbach: Wissenschaftliche Studien würden nicht unbedingt per se abgelehnt, sondern dann, wenn deren Erkenntnisse nicht zum eigenen Weltbild passten. "Umgekehrt werden Studien, die passen, gerne geglaubt." (Von Marco Rauch, dpa/bearbeitet von fab)