Mehr als 200 Journalistinnen und Journalisten wurden in Gaza in den vergangenen Monaten getötet, internationalen Reporterinnen und Reportern wird der Zugang verwehrt. Die Pressefreiheit ist fast nirgends so bedroht wie aktuell in Gaza, appelliert "Reporter ohne Grenzen" im Interview.

Ein Interview

Die Pressefreiheit weltweit ist unter Druck – und in diesem Jahr bei einem Tiefpunkt angekommen. In 90 von 180 Ländern stuft die Nichtregierungsorganisation "Reporter ohne Grenzen" (RSF) die Lage für Medienschaffende als "schwierig" oder "sehr ernst" ein. Die Palästinensischen Gebiete seien für Journalistinnen und Journalisten laut RSF derzeit der gefährlichste Ort.

Internationalen Medienschaffenden würde von Israel derzeit der Zugang in die Gebiete aktiv verwehrt, die palästinensischen Journalistinnen und Journalisten vor Ort müssten wegen der israelischen Armee um ihr Leben fürchten, kritisiert RSF und macht deshalb in einer medialen Aktion auf den Schutz der Medienschaffenden in Gaza aufmerksam.

Im Interview berichtet RSF-Sprecher Christopher Resch von gezielten Angriffen, die die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten unmöglich machen – und weshalb schwere Verbrechen dennoch weitgehend straflos bleiben.

Die Lage für Journalistinnen und Journalisten in Gaza wird immer gefährlicher. In den vergangenen Monaten wurden mehr als 200 getötet – wohl durch die israelische Armee. Was bedeutet das für "Reporter ohne Grenzen"?

Christopher Resch: Wir fordern dringend, dass Journalistinnen und Journalisten endlich wirksam geschützt werden. Weltweit, aber vor allem in Gaza. Die israelische Militärführung berücksichtigt den Schutz der Medienschaffenden zu wenig. Ausserdem wollen wir einen Zugang für internationale Berichterstatterinnen und Berichterstatter nach Gaza. Ihnen wird seit Kriegsbeginn bewusst der Zutritt verwehrt – in einem historisch beispiellosen Masse.

Das Al-Nasser Krankenhaus ist ein bekannter Treffpunkt für vertriebene Journalistinnen und Journalisten. Es wird immer wieder bombardiert. Wie kann ein Schutz für Medienschaffende in Kriegsgebieten aussehen?

Das Sicherheitsrisiko führt auch die israelische Armee als Hauptgrund an, keine internationalen Medienschaffende reinzulassen. Aber es gibt viele Berichterstattende mit teils jahrzehntelanger Erfahrung in Kriegsgebieten, die von vor Ort berichten wollen und bereit sind, das Risiko zu tragen. Es ist Aufgabe der Kriegsparteien, den Schutz der Medienschaffenden sicherzustellen. Gerade die israelische Armee ist technologisch sehr gut ausgestattet, kann Angriffe hochpräzise ausführen – ohne zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten oder Medienschaffende zu töten.

Im Fall des durch eine Drohne getöteten Al-Jazeera-Journalisten Anas Al-Sharif Anfang August war die Begründung Israels, er sei ein Hamas-Terrorist.

Es gibt keinen Nachweis darüber, dass Al-Sharif selbst zur Waffe gegriffen oder aktiv Hamas-Propaganda verbreitet hat. Die israelische Armee hat angebliche Belege veröffentlicht, will sie aber nicht unabhängig überprüfen lassen. Es gibt Social-Media-Posts, die eine Nähe von Al-Sharif zur Hamas zeigen sollen. Ist es gerechtfertigt, einen Menschen auf Basis einer solchen Indizienlage zu töten? Aus humanitärer Sicht auf keinen Fall. Zumal mit Anas al-Sharif noch fünf weitere Journalisten getötet wurden.

Aktivismus und Journalismus sollten nicht vermischt werden. Wie schwer lässt sich das im Kriegsgebiet in Gaza tatsächlich trennen?

Natürlich ist es wichtig, dass journalistische Arbeit ethisch höchsten Ansprüchen genügt. Aber die palästinensischen Journalistinnen und Journalisten sind selbst betroffen, sie leben in einem Krieg, über den sie berichten, wurden teils mehrfach vertrieben – genauso wie häufig ihre Familien.

Das israelische Militär hat erst kürzlich wieder betont, dass es Journalisten nicht als solche ins Visier nehme.

Das ist nicht mehr als eine Behauptung. Wir sehen gezielte Tötungen, wie die von Al-Sharif, bei denen die Beweislage viel zu dünn ist. Vor allem sehen wir aber ein Muster in dem Vorgehen der israelischen Streitkräfte.

Inwiefern?

Die Berichterstattung von Journalistinnen und Journalisten in Gaza wird aktiv verhindert. Bis dahin, sie gezielt zu töten.

Laut geltendem Völkerrecht ist die Tötung eines Journalisten ein Kriegsverbrechen. Israel ist Teil der UN. Warum unternimmt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nichts?

Das ist juristisch gar nicht so leicht. Israel ist zwar Teil der UN, die Genfer Konvention haben sie quasi anerkannt, wenn auch nicht als Vertragspartei des Zusatzprotokolls. Beim Internationalen Strafgerichtshof ist Israel allerdings kein Mitglied, der solche Kriegsverbrechen dann verfolgen würde.

Genfer Konvention

  • Die Genfer Konventionen sind zwischenstaatliche Abkommen und ein Teil des humanitären Völkerrechts. Sie regeln im Falle eines bewaffneten Konflikts den Schutz von Personen, die nicht am Krieg teilnehmen. Erstmals wurden sie 1864 beschlossen und umfassen seit 1949 vier Hauptabkommen sowie weitere Zusatzprotokolle, die von fast allen Ländern ratifiziert wurden. Israel hat die vier Hauptabkommen ratifiziert, jedoch nicht die Zusatzprotokolle I und II von 1977.

Das heisst?

Der Nahostkonflikt als Situation wurde seitens des IStGH zwar anerkannt, er ist juristisch zuständig, Israel hat dem aber nicht zugestimmt. Generell gibt es zu wenig grundlegende internationale Regelwerke, an die sich die Mehrheit der Staaten hält oder halten will. UN-Resolutionen gegenüber der israelischen Führung bleiben auch im Appellmodus.

Warum ist das so?

Mächtige Staaten, wie die USA unter Präsident Donald Trump, sägen gefährlich an der Glaubwürdigkeit des IStGH. Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, steht beispielsweise auf einer Sanktionsliste der USA. Die Arbeit des IStGH soll dadurch verhindert werden. Ein Riesenproblem, da so niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Damit bleiben schwerste Verbrechen straflos. Die deutsche Bundesregierung, auch die vorherige, spielt hier auch keine gute Rolle.

Was meinen Sie damit?

Wir fordern mehr diplomatischen Druck. Ausser verbalen, im Grundsatz begrüssenswerten Äusserungen des Bundeskanzlers passiert aber nichts. Deshalb haben wir uns als RSF der Forderung angeschlossen, das EU-Assoziierungsabkommen auszusetzen. Ein Vertrag über eine Partnerschaft zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten mit Israel. Dieses Abkommen ist daran geknüpft, dass sich kein beteiligter Staat Menschenrechtsverletzungen schuldig machen darf. Das geschieht seitens der israelischen Armee aber gerade.

Die Palästinensischen Gebiete sind laut Ihren Erhebungen aktuell der gefährlichste Ort für Medienschaffende weltweit. Dort herrscht die Terrororganisation Hamas. Wie sicher war die Arbeit für Medien vor dem Krieg mit Israel?

Das ist wichtig zu betonen: Die Hamas und auch der Islamische Dschihad sind Terrororganisationen. Beide haben nichts für unabhängige, kritische Berichterstattung übrig. Schon vor dem Krieg haben wir immer wieder kritisiert, dass in Gaza Journalistinnen und Journalisten verhaftet, länger eingesperrt und sogar gefoltert werden. Dennoch gab es Räume für die Zivilbevölkerung, auch für Journalismus.

Wie hat sich das in den letzten zwei Jahren verändert?

Kritische Berichterstattung ist kaum noch möglich. Wir erhalten aber weniger Berichte über Bedrohungen von Medienschaffenden als vor dem Krieg. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es wenig kritische Berichte von palästinensischen Medienschaffenden über die Hamas gibt. Es ist zu gefährlich, und das Hauptinteresse der Berichterstattung liegt auf dem Krieg und seinen Folgen. Aber auch in Israel ist die Pressefreiheit unter Druck geraten. Auch dort bekommen Medien Probleme, die die Netanyahu-Regierung kritisch hinterfragen.

Weltweit ist die Pressefreiheit in diesem Jahr bei einem Tiefpunkt angekommen. Wie wird es die kommenden Jahre weitergehen?

Empfehlungen der Redaktion

Seit über einem Jahrzehnt wird es von Jahr zu Jahr schlechter. So langsam gehen einem die Superlative aus. Wir sehen allerdings weiterhin keine Verbesserung. Es fehlt eine Rechenschaftspflicht, wir sehen nicht, dass Verbrechen aufgeklärt werden, der Aufstieg des Autoritarismus schreitet voran. Journalistische Arbeit wird gefährlicher. Deshalb müssen wir die unabhängigen Journalistinnen und Journalisten und Medien unbedingt stärken.

Über den Gesprächspartner

  • Christopher Resch ist Pressereferent mit den Schwerpunkten Naher Osten und Nordafrika bei Reporter ohne Grenzen. Zuvor war er nach eigenen Angaben freier Journalist für unterschiedliche deutsche Medien mit dem Fokus auf arabisch-muslimische Kultur, Gesellschaft und Politik im Dialog mit Deutschland und Europa.