Israel hat seine Offensive auf Gaza-Stadt ausgeweitet und dringt mit Luft- und Bodentruppen in dichtbesiedelte Gebiete vor. Der Nahost-Experte Simon Wolfgang Fuchs glaubt: Israels Premier Netanjahu hat die Rettung der Geiseln inzwischen aufgegeben – und macht nur noch Politik für einen Teil seiner Bevölkerung.
Die israelische Regierung setzt ihre Ankündigung in die Tat um. Am Dienstagmorgen schrieb Verteidigungsminister Israel Katz: "Gaza brennt". Die Regierung hat ihre Angriffe auf Gaza-Stadt massiv intensiviert. Das Ziel: die Zerschlagung der im Gaza-Streifen herrschenden radikalislamischen Hamas, die Israel am 7. Oktober 2023 angegriffen hat.
Doch ist dieses Ziel realistisch? Und kann Israels Armee die letzten noch lebenden, von der Hamas verschleppten Geiseln so wirklich befreien? Der Nahost-Experte Simon Wolfgang Fuchs bezweifelt das.
Herr Fuchs, Israel hat eine Bodenoffensive in Gaza-Stadt begonnen. Das hat das israelische Militär bestätigt. Was erhofft sich die israelische Regierung von der Aktion?
Simon Wolfgang Fuchs: Israel hat bereits durch den Angriff auf die Hamas-Führung in Katar letzte Woche deutlich gemacht, dass man an einer Verhandlungslösung für Gaza nicht mehr interessiert ist. Verteidigungsminister Katz hat dies mit seiner Aussage "Gaza brennt" von heute Morgen einmal mehr unterstrichen. Die Regierung um Premier Netanjahu setzt derzeit allein auf Härte und Zerstörung.
Das Kriegsziel, das Leben der Geiseln zu retten, wurde also aufgegeben?
Ja, das zeigt der Befehl zur Bodenoffensive in Gaza-Stadt, über alle Widerstände der Militärführung und von deren Rechtsberatern hinweg. In diesem Zusammenhang ist es auch unerheblich, ob die Hamas diese tatsächlich, wie berichtet, aus den Tunneln in Zelte oberirdisch verbracht hat. Auch in den Tunneln sind die verbliebenen israelischen Geiseln nun massiv gefährdet, von den verblieben Hunderttausenden palästinensischen Zivilisten in Gaza-Stadt ganz zu schweigen.
Wenn es nicht mehr vorrangig um die Befreiung der Geiseln geht – wie realistisch ist der endgültige Sieg gegen die Hamas?
Das Ziel der Zerstörung der Hamas ist nicht näher gerückt. Die Armee geht von einer Operation aus, die ein ganzes Jahr dauern könnte. Die Darstellung von Gaza-Stadt als letzter verbliebener Hochburg der Hamas, nach deren Ausschaltung der Krieg rasch enden würde, erinnert zudem fatal an die gleiche Titulierung von Rafah im Frühjahr 2024. Obwohl Rafah dem Erdboden gleichgemacht wurde, ist die Hamas immer noch da.
In welcher Phase des Kriegs befinden wir uns jetzt?
Die letzten Wochen hat sich die Armee schon auf Gaza-Stadt konzentriert, dabei ging es aber vorrangig um grösstenteils verlassene Teile der Stadt. Jetzt sehen wir das direkte Vorgehen von zwei Divisionen in dicht besiedelten Gebieten inmitten von Wohnhäusern und Zeltlagern.
"Selbst wenn sich die Menschen in Sicherheit bringen möchten, stecken sie fest inmitten von Chaos und langen Schlangen."
Und die humanitäre Katastrophe hält an.
Wenn man Videos über das Bombardieren von Hochhäusern betrachtet, steht der Zivilbevölkerung in Gaza das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Die angeblich erfolgten Warnungen bezüglich Evakuierungen scheinen nicht zu funktionieren. Und selbst wenn sich die Menschen in Sicherheit bringen möchten, so wie gestern Nacht, stecken sie fest inmitten von Chaos und langen Schlangen. Selbst wenn sie es aus Gaza-Stadt herausschaffen, sind keinerlei Vorbereitungen für ihre humanitäre Versorgung anderswo getroffen. Netanjahu scheint indes die Bevölkerung auf eine lange Phase des fortbestehenden Kriegszustandes und der internationalen Isolation einschwören zu wollen.
Woraus schliessen Sie das?
Er sprach gestern davon, dass sich Israel in ein "Super-Sparta" verwandeln müsse, und gab muslimischen Migranten in Europa die Schuld für die scharfe Kritik, die wir in den letzten Wochen aus Spanien und Belgien am israelischen Vorgehen gehört haben.
Vor welcher Situation steht die israelische Armee nun militärisch in Gaza-Stadt?
Die israelische Regierung hat bisher hervorgehoben, dass man bereits 40 Prozent von Gaza-Stadt kontrolliere. Ich erachte es als unwahrscheinlich, dass man im gleichen Tempo vorankommt. Die israelische Armee trifft in Gaza-Stadt auf eine grosse Anzahl palästinensischer Zivilisten. Zudem steigt nun die Gefahr von Sprengfallen und Hinterhalten. Die Armee verfügt über keine Informationen über den genauen Aufenthaltsort der Geiseln.
Wie sieht es mit dem Rückhalt für Premier Netanjahu dafür aus?
Netanjahu scheint sich entschlossen zu haben, nur noch für eine Minderheit der Israelis Politik machen zu wollen. Es sind längst nicht mehr allein die Geiselfamilien, die die Bodenoffensive ablehnen. Einav Zangauker, die Mutter des als Geisel gehaltenen Matan, bezeichnete beispielsweise die Regierung bei Protesten vor Netanjahus Privatwohnung in Jerusalem als "Kabinett des Todes, das nun einen Schritt hin zu ewigem Krieg und der Besetzung von Gaza" getan habe. Man werde bei intensiven Protesten nun nicht länger "höflich" sein. Wichtig erscheint mir, dass auch das "Israeli Business Forum", ein Zusammenschluss von rund 200 Eigentümern und Geschäftsführern der führenden israelischen Firmen, klar Stellung bezogen hat.
In welcher Form?
Die Vereinigung wies die "Sparta"-Bezeichnung entschieden zurück – diese Vision werde es schwer für Israel machen, in der globalen Welt von heute zu überleben. Stattdessen gehe es um eine sofortige Kurskorrektur – der längste Krieg in der Geschichte Israels müsse aufhören, die Geiseln freikommen, es bedürfe einer staatlichen Untersuchungskommission zum 7. Oktober und der Ausrufung von Neuwahlen. Die Vereinigung ist der Meinung: Nicht weniger als unsere Existenz in Israel stehe auf dem Spiel.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Simon Wolfgang Fuchs ist Professor für Islam im Nahen Osten und Südasien an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Der Nahost-Experte arbeitet zum modernen Islam im Nahen Osten, Südasien sowie in globalen Kontexten.