Die israelische Regierung steht wegen ihres Vorgehens im Gazakrieg weltweit in der Kritik, zunehmend auch in Deutschland. Israels Botschafter Ron Prosor hält dagegen. Er sieht sein Land existenziell bedroht und sagt: "Wir hören den Bedenken aus Deutschland zu. Umgekehrt erwarten wir dasselbe."

Ein Interview

In der Eisenzahnstrasse in Berlin-Wilmersdorf erinnert ein Stolperstein an Ulrich Proskauer. 1933 musste er mit seinen Eltern und seiner Schwester vor den Nationalsozialisten ins damalige Völkerbundmandat Palästina fliehen, wo später der Staat Israel entstand.

Knapp 92 Jahre später arbeitet in nur rund zwei Kilometern Entfernung sein Sohn. Ron Prosor vertritt seit 2022 als Botschafter den Staat Israel in der Bundesrepublik Deutschland. In seinem Büro hängt ein Foto von der Stolpersteinverlegung. Ein schier unglaublicher Kreis hat sich geschlossen.

Die Bundesrepublik und Israel feiern in diesem Jahr den 60. Jahrestag ihrer diplomatischen Beziehungen. Doch die Zeiten sind stürmisch. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 führt die israelische Armee Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen. Das Ausmass der Zerstörung, die Zahl der Opfer sorgt auch in Deutschland für immer mehr Kritik. Vor kurzem hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) entschieden, vorerst keine Rüstungsgüter mehr nach Israel liefern zu lassen, die in Gaza zum Einsatz kommen können.

Herr Botschafter, sind Sie enttäuscht von der Bundesregierung?

Ron Prosor: Wir müssen uns doch fragen: Was hat diese Entscheidung gebracht? Sind die Geiseln wieder zu Hause? Nein. Gibt es einen Waffenstillstand? Nein. Der Druck auf Israel ermutigt die Extremisten in der Region. Das besorgt auch Ägypten und Jordanien, die gegen die Muslimbruderschaft kämpfen.

Eine Mehrheit der Deutschen findet die Entscheidung richtig.

Dann antworte ich mit einem Satz des früheren Bundespräsidenten Walter Scheel: Es ist nicht die Aufgabe eines Politikers, das Populäre zu tun. Es ist Aufgabe des Politikers, das Richtige zu tun und es populär zu machen. Die Bilder der abgemagerten israelischen Geiseln zeigen, gegen wen wir kämpfen: Wir verteidigen uns gegen mörderische Islamisten, die auch Europa bedrohen.

"Glauben die Europäer wirklich, dass sie Israels nationale Interessen besser verstehen als wir selbst?"

Ron Prosor

Man kann es aber auch so sehen: Selbst wenn die Hamas eines Tages besiegt ist – das harte israelischen Vorgehen im Gazastreifen legt doch die Saat für die nächste Terrorgeneration. Das kann nicht im Interesse Israels sein.

Glauben die Europäer wirklich, dass sie Israels nationale Interessen besser verstehen als wir selbst? Die Hamas hat immer klar gesagt und geschrieben, dass sie Israel zerstören will. In palästinensischen Schulbüchern wird gegen Israel gehetzt. In der fünften Klasse geht es dort nicht um Marie Curie, Einstein oder Beethoven, sondern um Dalal Mughrabi. Sie war 1978 an einem Anschlag beteiligt, bei dem 38 Israelis starben, davon 13 Kinder. Trotzdem haben auch wir in Israel diese Ideologie verharmlost.

Inwiefern?

Als sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, war ich Staatssekretär. Ich habe damals geglaubt, dass das der Anfang einer Zwei-Staaten-Lösung ist. Wenn Sie mich am 6. Oktober 2023 gefragt hätten, ob ich glaube, dass die Hamas uns überfallen wird – ich hätte Nein gesagt und das für Säbelrasseln gehalten. Am 7. Oktober wurden wir eines Besseren belehrt: Die ersten Opfer waren ausgerechnet Zivilisten, die in den Kibbuzim ihr Leben einem Frieden mit den Palästinensern gewidmet hatten. Die dschihadistische Ideologie der Hamas muss bekämpft werden – nicht nur eingedämmt.

Fühlen Sie sich dabei nicht unterstützt?

Wir haben die Europäer seit Jahrzehnten vor den Mullahs und den Ayatollahs im Iran gewarnt. Heute produzieren sie Drohnen, mit denen die Ukraine angegriffen wird, und die Huthis im Jemen schiessen mit iranischen Raketen auf europäische Schiffe. Wer heute Synagogen in Brand steckt, wird morgen vor Kirchen keinen Halt machen. Wie ein Papagei wird ständig wiederholt: Zwei-Staaten-Lösung, Zwei-Staaten-Lösung! Das reicht aber nicht, viel mehr müsste es heissen: Es braucht neben einem demokratischen jüdischen Staat auch einen demokratischen palästinensischen Staat. Mit der Hamas an der Macht in Gaza ist das nicht möglich.

Wie stellt sich die israelische Regierung denn die Zukunft vor? Was soll mit den Menschen im Gazastreifen passieren, wenn die Hamas wirklich besiegt sein sollte?

Haben Sie das auch mal einen Palästinenser gefragt? Haben Sie ihn nach seiner Vorstellung für die Zukunft gefragt? Wollt ihr mit den Israelis in Frieden leben oder uns alle umbringen?

Die Frage ist sicher angebracht. Aber in diesem Moment kann ich nur Sie nach der israelischen Seite fragen.

Wir müssen Voraussetzungen schaffen, damit wir eines Tages nebeneinander leben können. Dafür müssen wir die militärische Infrastruktur der Hamas beseitigen. Es darf nie wieder ein Terrorstaat errichtet werden, der mit Raketen auf Israel zielt. Der Wiederaufbau von Gaza kann nur ohne die Hamas gelingen.

Der Überfall der Hamas auf Israel jährt sich bald zum zweiten Mal. Die Hamas hält immer noch Geiseln gefangen, der Gazastreifen liegt in Trümmern. Wäre das nicht ein Anlass für die israelische Regierung, über eine neue Strategie nachzudenken?

Schauen wir erstmal auf das, was erreicht wurde: Im Libanon wurde zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Regierung ohne die Hisbollah gebildet. Assad herrscht nicht mehr in Syrien. Im Iran haben wir die Mullahs geschwächt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, enger mit arabischen Staaten für einen friedlichen Nahen Osten zusammenzuarbeiten.

"Es gibt einen stillen Boykott gegen israelische Künstler in Theatern, im Musikbereich und in der Wissenschaft."

Ron Prosor

Deutschland und Israel feiern in diesem Jahr den 60. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Nach der Shoa war es keine Selbstverständlichkeit, dass sich die Länder und ihre Menschen heute so nah sind. Ihr Vater ist einst selbst vor den Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen – wie schauen Sie heute auf Deutschland?

Der Antisemitismus treibt mich um. Heute haben Juden Angst, mit ihren Kindern S-Bahn zu fahren. An den Universitäten gibt es Judenhass erster Klasse. Es gibt unterschiedliche Formen von Antisemitismus: rechten, muslimischen und linken. Die Rechtextremen sagen offen: Wir sind gegen Juden, Schwarze, Schwule – und wir sind noch stolz darauf. Der Fall ist relativ eindeutig. Rechtlich weiss man in Deutschland, wie man damit umzugehen hat. Beim muslimischen Antisemitismus lernt man das gerade. Linker Antisemitismus ist aus meiner Sicht aktuell das grösste Problem.

Warum?

Was im kulturellen und akademischen Bereich stattfindet, ist eine Katastrophe. Israel wird ständig dämonisiert. Es gibt einen stillen Boykott gegen israelische Künstler in Theatern, im Musikbereich und in der Wissenschaft. Juden werden nur dann eingeladen, wenn sie den Schmähungen gegen Israel einen Koscher-Stempel verleihen.

Ist das nicht eine sehr einseitige Sichtweise? Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist die Solidarität mit Israel in Deutschland immer noch gross. Auch in der politischen Linken.

Schauen Sie sich die Realität an: Vor jeder jüdischen Grundschule stehen bewaffnete Polizisten, vor jeder Synagoge ebenso. Wer mit Davidstern oder Kippa durch Berlin läuft, wird angefeindet oder angegriffen. Freundinnen und Freunde sagen mir, dass sie als Juden in diesem Land keine Zukunft mehr sehen. Jetzt rufen 350 Forscher aus Deutschland sogar zum akademischen Boykott Israels auf. Seit dem 7. Oktober 2023 werden jüdische Studenten an deutschen Universitäten systematisch angefeindet und bedroht – teilweise sogar körperlich angegriffen. Dieser Boykott-Aufruf giesst zusätzlich Öl ins Feuer.

Haben Sie noch Hoffnung, dass Israel im Nahen Osten irgendwann im Frieden mit seinen Nachbarn leben wird? In den vergangenen Jahren hat man eher den Eindruck bekommen, dass das immer unwahrscheinlicher wird.

Ganz im Gegenteil: Ich bin sehr optimistisch.

Warum?

Ich habe schon die neue politische Lage im Libanon und Syrien angesprochen. Die Abraham-Abkommen mit den Vereinten Arabischen Emiraten, Marokko und Bahrain sind nur der Anfang. Menschen aus diesen Ländern besuchen jetzt Israel. Wer gedacht hat, dass die Israelis Hörner haben, sieht plötzlich, dass er es mit ganz normalen Menschen zu tun hat. Nicht jeder Israel-Besucher wird ein überzeugter Zionist, aber die Einstellungen verändern sich und die Angst vor uns verschwindet. So etwas brauchen wir auch mit Ägypten und Jordanien. Gerade die Ägypter und die Saudis sind hinter den Kulissen doch froh, dass wir den Iran und die Hamas geschwächt haben. Wenn der Einfluss der Mullahs zurückgedrängt wird, gibt es eine echte Chance auf Frieden in Nahost.

Was erwarten Sie von Deutschland?

Die deutsch-israelische Freundschaft ist keine Einbahnstrasse. Wir hören den Bedenken aus Deutschland zu. Umgekehrt erwarten wir dasselbe. Israel wird existenziell bedroht. Deutschland muss dagegen klare Kante zeigen. Gerade in stürmischen Zeiten muss Deutschland in internationalen Gremien wie der UNO und der EU an Israels Seite stehen. Am Bekenntnis zu Israels Sicherheit darf es keine Zweifel geben. Die strategischen Beziehungen sind über Jahrzehnte gewachsen, beide Länder profitieren davon gleichermassen: in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Kultur und auch in der Sicherheitspolitik. Diese Errungenschaften dürfen nicht auf dem Altar der Tagespolitik geopfert werden.

Über den Gesprächspartner

  • Ron Prosor wurde 1958 in Israel geboren. Sein Vater stammte aus Berlin, seine Mutter aus Odessa. Der Politikwissenschaftler hat die Aussenpolitik seines Landes an vielen Positionen mitgestaltet. Er war unter anderem Pressesprecher der israelischen Botschaften in Bonn und London, Generaldirektor des Aussenministeriums und Botschafter im Vereinigten Königreich. Seit August 2022 ist er Botschafter des Staates Israel in Deutschland.