Der vereinbarte Austausch von Gefangenen und Gefallenen zwischen Russland und der Ukraine verzögert sich. Beide Seiten geben sich die Schuld daran.

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Russische Vertreter warten nach eigenen Angaben weiter mit 1.212 gekühlten Überresten gefallener Soldaten in Lastwagen nahe der ukrainischen Grenze und fordern die Abnahme der Toten. Die russische Seite erwarte eine Mitteilung über die ukrainischen Kanäle, ob die "humanitäre Aktion" umgesetzt oder womöglich auf nächste Woche verschoben werde, sagte der Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums, Alexander Sorin, Moskauer Medienvertretern. "Wir sind bereit, mehr als 6.000 Leichen in Fuhren zu übergeben – per Strassentransport und auf dem Schienenweg", sagte der Generalleutnant.

Das russische Staatsfernsehen zeigte die weissen Lastwagen des Zivilschutzministeriums an einer befahrenen Strasse. Bereits am Vortag hatte Sorin im Telegram-Kanal des Verteidigungsministeriums ein Video veröffentlicht, auf dem die Lastwagen mit den Kühlcontainern zu sehen waren. Im Inneren lagen weisse Säcke, in denen die Überreste der ukrainischen Soldaten sein sollen.

Ukraine und Russland machen einander Vorwürfe

Die ukrainische Koordinierungsstab hatte erklärt, dass die russische Seite ohne genaue Terminabsprache den Zeitpunkt der Übergabe der Toten eigenmächtig festgelegt habe. Moskau hingegen warf Kiew eine Verzögerung vor. Ukrainische Oppositionelle und russische Besatzer behaupteten, die Ukraine zögere mit der Übernahme so vieler Leichen, weil sie dann hohe Summen an die Hinterbliebenen zahlen müsse. Dagegen betonte der ukrainische Koordinierungsstab, dass alle toten Soldaten heimgeholt werden sollen. So sollen sich die Angehörigen von ihnen verabschieden können.

Die Ukraine habe "unerwartet die Annahme der Leichen und den Austausch der Kriegsgefangenen auf unbestimmte Zeit verschoben", erklärte der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski in Onlinediensten. "Wir fordern Kiew auf, sich strikt an den Zeitplan und alle getroffenen Vereinbarungen zu halten und unverzüglich mit dem Austausch zu beginnen", fügte er hinzu.

Kiew warf Moskau daraufhin "Manipulationen" vor. Das ukrainische Koordinierungs-Hauptquartier für Kriegsgefangene erklärte, die Liste der Gefangenen, die Moskau angeblich freigeben wolle, entspräche nicht den Bedingungen des Abkommens. "Wir fordern die russische Seite auf, mit den schmutzigen Spielchen aufzuhören und zu konstruktiver Arbeit zurückzukehren", damit der Gefangenenaustausch in den kommenden Tagen umgesetzt werden könne, hiess es weiter.

Der im russisch kontrollierten Teil des ukrainischen Gebiets Saporischschja eingesetzte Besatzungschef, Jewgeni Balizki, veröffentlichte in seinem Telegram-Kanal die Personalien und Todesorte der gefallenen Soldaten. Viele starben demnach im russischen Gebiet Kursk, in dem ukrainische Truppen im August vorigen Jahres Dutzende Ortschaften erobert hatten. Russland hatte bei der Rückeroberung von grossen Verlusten der ukrainischen Streitkräfte gesprochen.

Die Rückgabe der Leichen und ein neuer Gefangenenaustausch mit 1.200 Inhaftierten auf jeder Seite war Anfang des Monats in Istanbul bei direkten Verhandlungen von Vertretern Kiews und Moskaus vereinbart worden. Auch ein Termin für den eigentlich an diesem Wochenende erwarteten Gefangenenaustausch war nicht klar.

Kämpfe in der Region Dnipropetrowsk halten an

Während sich beide Seiten die Schuld an dem verzögerten Austausch von Gefangenen und Gefallenen vorwerfen, gehen die Kämpfe unvermindert weiter. Bei neuen russischen Angriffen in der Nacht zum Sonntag ist nach ukrainischen Angaben mindestens ein Mensch getötet worden. Die Industrieregion Dnipropetrowsk sei mit Drohnen, Artillerie und Raketen angegriffen worden, teilte der Leiter der örtlichen Militärverwaltung, Mykola Lukaschuk, am Morgen mit. Dabei seien Gebäude, darunter ein Kindergarten, und Stromleitungen zerstört worden.

Die russische Armee teilte am Sonntag im Onlinedienst Telegram mit, Kräfte einer Panzereinheit hätten "die Westgrenze der Volksrepublik Donezk erreicht und führen weiterhin eine Offensive in der Region Dnipropetrowsk". Donzek gehört zu den fünf Regionen, die Russland nach eigenen Angaben annektiert hat, das an Donezk angrenzende Dnipropetrowsk gehört bislang nicht dazu.

Der Vormarsch der russischen Streitkräfte in eine weitere Region der Ukraine wäre sowohl ein symbolischer als auch ein strategischer Rückschlag für Kiew nach monatelangen Verlusten auf dem Schlachtfeld. Eine Reaktion der Ukraine lag zunächst nicht vor. Am Morgen hatten die ukrainischen Behörden ein Todesopfer bei russischen Angriffen in der Region gemeldet.

Dnipropetrowsk ist ein wichtiges Bergbau- und Industriezentrum der Ukraine. Tiefere russische Vorstösse in die Region könnten ernste Folgen für die angeschlagene Armee und Wirtschaft der Ukraine haben.

Bereits in der Nacht zum Samstag waren bei massiven russischen Angriffen laut ukrainischen Angaben landesweit mindestens zehn Menschen getötet worden. Alle Bemühungen um eine zumindest befristete Feuerpause im seit mehr als drei Jahren andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind bisher gescheitert. (afp/dpa/bearbeitet von the)