19 russische Drohnen sind in den polnischen Luftraum eingedrungen und wurden dort abgeschossen. Polen spricht von einer "Provokation grossen Ausmasses" und aktiviert Nato-Artikel 4. Wie weit ist ein Bündnisfall entfernt und was könnte Russland mit den Drohnen bezweckt haben? Der Militärexperte Gustav Gressel gibt Antworten.
Herr Gressel, das polnische Militär hat am Mittwoch russische Drohnen abgeschossen, die in den polnischen Luftraum eingedrungen waren. Wie gefährlich waren diese Drohnen?
Gustav Gressel: Es handelt sich im Grunde um Multifunktionsdrohnen. Sie werden in China hergestellt und als modulares Baukit nach Russland geliefert – dort werden sie dann endgültig zusammengebastelt. Diese Gerbera-Drohnen sind daher für verschiedene Zwecke gedacht.
Welche sind das?
Sie werden normalerweise zum Beispiel als Ablenkungsflugkörper eingesetzt, um die ukrainische Fliegerabwehr zu täuschen. Oder auch als Funkrelais – dabei werden mehrere Drohnen wie ein fliegendes Netzwerk eingesetzt und sie geben Funksignale an andere Drohnen weiter. Letztlich können die Drohnen auch zur Aufklärung eingesetzt werden. Sie sind mit Kameras ausgestattet und vermutlich gibt es auch Varianten mit Radargeräten.
Der polnische Regierungschef Donald Tusk nannte die 19 Drohnen, die vor allem aus Richtung Belarus kamen, eine "Provokation grossen Ausmasses". Könnte es nicht auch ein Fehler gewesen sein, dass diese Drohnen in polnischen Luftraum eingedrungen sind?
Ein Navigationsfehler war das wahrscheinlich nicht. Diese 19 Drohnen kamen wahrscheinlich von mindestens zwei, wahrscheinlich eher drei oder vier unterschiedlichen Startrampen beziehungsweise Startplätzen. Das heisst: Es müssten im selben Angriff mehrere Bedienmannschaften auf unterschiedlichen Plätzen denselben Navigationsfehler einprogrammiert haben – relativ unwahrscheinlich.
Drohnen über Polen: Russland testet die Nato
Könnte es an ukrainischen Funkstörungen gelegen haben?
Auch das halte ich für weniger wahrscheinlich. Die Gerbera-Drohnen sind relativ resistent und werden, wie gesagt, selbst auch als Funkrelais eingesetzt. Sie schalten ukrainische Funkstörungen aus, damit andere Drohnen, etwa Shahed-Kamikazedrohnen, trotz Störversuche weiterhin Steuerbefehle oder Navigationsdaten empfangen können. Das war schon ein bewusstes Austesten der Russen – wahrscheinlich mit Drohnen in Aufklärungsfunktion.
Austesten wovon?
Vermutlich um zu sehen, ab wann die Polen diese Geräte sehen und ab wann die Luftabwehr sie ausschaltet. Das ist für die Russen durchaus interessant. Die Drohnen tragen nur einen sehr kleinen Sprengkopf. Er ist eigentlich nur zur Selbstzerstörung da.
Warum das?
Wenn die Drohnen abstürzen, soll dieser Sprengkopf das Gerät zerstören, damit die Aufklärungs- und Funkeinrichtungen nicht in ukrainische Hände fallen. Das könnten die Ukrainer sonst sofort technisch auswerten und analysieren.
Die abgestürzten Drohnen könnten also noch gefährlich sein?
Ja, die Sprengsätze funktionieren nicht immer. Das ukrainische Militär hat auch die eigenen Zivilisten dringend angehalten, den Entminungsdienst zu rufen, wenn sie solche Drohnen finden, und keinesfalls die Geräte selbst aufzuheben. Der Selbstzerstörungszünder könnte aktiv werden und man könnte selbst mit dem Gerät in die Luft fliegen. Das hat einen gewissen Gefährdungsgrad.

Warum kommt der Vorfall genau jetzt?
Es ist auch ein Testen der USA. Der polnische Staatspräsident Karol Nawrocki war letzte Woche in Washington. Er hat eine besondere ideologische Nähe zu Donald Trump. Die Russen können nun ein Bild kriegen, inwieweit Trump sehr nahen europäischen Verbündeten noch die Stange hält, oder ob jetzt nichts dabei rauskommt. Das werden die Russen sehr genau beobachten.
Polen aktiviert Nato-Artikel 4: Das steckt dahinter
Polens Regierungschef Tusk setzt auf die Unterstützung der Nato und hat Konsultationen der Bündnispartner beantragt. Wie weit sind wir noch von Nato-Artikel 5, einem sogenannten Bündnisfall, entfernt?
Im Grunde handelt es sich schon um einen bewaffneten Angriff. Aber es ist natürlich ein Angriff, mit dem Polen mit den Nato-Kräften, die im Routinebetrieb in Polen stationiert sind, fertig wird. Niederländische und italienische Kampfflugzeuge waren in der Nähe. Es war bereits eine über das Nato-Luftverteidigungskommando organisierte Operation, allerdings keine so dauerhafte und grosse, dass weitere Hilfe über das hinaus angefordert werden muss.
Polen hat aber Artikel 4 des Nordatlantikvertrags aktiviert ...
Ja, dieser besagt: Es gibt eine Bedrohung der eigenen Sicherheit und man konsultiert sich, wie man in der Sache weiter verfahren will. Die grosse Frage ist natürlich: Wie verhalten sich jetzt die USA? Man kann natürlich auf verschiedene Art reagieren.
Nämlich?
Empfehlungen der Redaktion
Man kann Sanktionen verhängen, man kann den Ukrainern weitere Waffen liefern, man kann Restriktionen für bestehende Waffen aufheben. Es gibt verschiedene Handlungsoptionen. Man muss sich dann allerdings auch für etwas entscheiden und auch wirklich etwas umsetzen. Von verärgerten Tweets lassen sich die Russen nicht abschrecken.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drängte auf weitere Sanktionen gegen Russland, um den Druck auf den Kreml weiter zu erhöhen. Was aber, wenn die USA gar nicht reagieren?
Dann müssen die Europäer auch in die Bresche springen und den Russen irgendwie Ärger machen, um zu demonstrieren, dass sie nicht einfach ein blindes Anhängsel der USA sind. Genau das wollen die Russen testen: Wie weit sind die USA noch bereit und wie weit sind die Europäer bereit, sich untereinander zu decken und für ihre eigene Sicherheit zu sorgen?
Welches Signal geht an Russland, wenn das nicht gelingt?
Wenn das alles nicht funktioniert, kann man die europäischen Staaten einzeln zerlegen und angreifen zu einem Zeitpunkt, wenn man aus der Ukraine draussen ist. Genau diesen Angriff will Europa eigentlich durch Abschreckung vermeiden. Aber dazu gehört nicht nur, dass man aufrüstet, sondern dazu gehört eben auch, dass man robuste Kommunikation hat.
Über den Gesprächspartner
- Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.