Wenn Richterinnen des Supreme Court ihrem eigenen Kollegium öffentlich Gesetzesbruch vorwerfen, ist das mehr als ein Streit hinter verschlossenen Türen. Es ist ein institutioneller Hilferuf. Ein Verfassungsrechtler warnt vor einem "gefährlichen Moment für die US-Justiz". Wie steht es wirklich um die Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten und was signalisiert dieser Fall für die Zukunft der Demokratie?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Natascha Wittmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

US-Präsident Donald Trump liegt seit Jahren im Dauerclinch mit der US-Justiz. Bereits während seiner ersten Amtszeit blockierten mehrere US-Gerichte zentrale Teile seiner Politik. Auch in seiner zweiten Amtszeit stellten sich Richter immer wieder gegen Trumps Dekrete – wie im Fall der Abschaffung des Geburtsrechts. Doch nun hat sich etwas verändert: Im jüngsten Fall ging die Auseinandersetzung nicht mehr zwischen Exekutive und Justiz vonstatten, sondern innerhalb des Supreme Court. Drei Richterinnen warnten öffentlich vor einer Entscheidung ihrer eigenen Institution.

Der Vorwurf? Der Supreme Court mache sich zum Erfüllungsgehilfen einer verfassungswidrigen Agenda. Ein juristischer Disput oder ein gefährliches Warnsignal und Zeichen dafür, dass ausgerechnet jene Institution, die die Gewaltenteilung sichern soll, selbst ins Wanken gerät? Anlass für den Unmut war die Entscheidung des Supreme Court, der Massenentlassung von fast 1.400 Mitarbeitern im Bildungsministerium zuzustimmen – ohne Begründung.

Damit folgte das Gericht einem Antrag der Trump-Regierung, die unter dem Vorwand von "Effizienz und Umstrukturierung" kurzerhand den Weg zur Zerlegung eines ganzen Ministeriums geebnet hat. Die Entscheidung des Supreme Court fiel im Rahmen des sogenannten "Shadow Docket", also einer Notfallentscheidung ohne reguläre Anhörung oder schriftliche Stellungnahme der Mehrheit.

Wenn Richterinnen und Experten Alarm schlagen: "Diese Art der Selbstanklage ist bemerkenswert"

Drei Richterinnen des Supreme Court, Sonia Sotomayor, Elena Kagan und Ketanji Brown Jackson, widersprachen der Entscheidung in einem 19-seitigen Minderheitsvotum. Besonders ein Satz von Richterin Sotomayor blieb dabei hängen. Sie schrieb: "Wenn die Exekutive öffentlich ihre Absicht verkündet, das Gesetz zu brechen, und dieses Versprechen dann in die Tat umsetzt, ist es die Pflicht der Judikative, diese Gesetzlosigkeit zu kontrollieren und nicht zu beschleunigen."

Der konkrete Vorwurf der Richterin? Der Supreme Court hat der Trump-Regierung faktisch und wissentlich die Möglichkeit gegeben, demokratische Institutionen auszuhöhlen.

US-Verfassungsrechtler Alex M. Reyes, ehemals Mitarbeiter eines Bundesberufungsgerichts in Washington, D.C., sieht in dem Disput ein tiefgreifendes Problem. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er: "Während Notfallentscheidungen oft wenig oder gar keine Begründung enthalten, ist es ungewöhnlich, dass eine Entscheidung mit so weitreichenden Folgen – die möglicherweise zur Auflösung eines Ministeriums führt – ohne jede Mehrheitsbegründung gefällt wird."

Die mangelnde Transparenz untergrabe das Vertrauen in die Justiz, so Reyes weiter. Über die Schärfe der Gegenstimmen sagt er: "Was hier auffällt, ist nicht nur die Kritik an der Entscheidung, sondern der institutionelle Vorwurf, das Gericht ermögliche exekutive Gesetzesverstösse. Diese Art der Selbstanklage ist in dieser Form bemerkenswert und Ausdruck tiefer Spannungen."

Eine Justiz unter Druck: Das Vertrauen der Öffentlichkeit schwindet

Die Entscheidung, das Personal im Bildungsministerium zu kürzen, ist jedoch nur ein weiteres Mosaikstück, das sich langsam zu einem grösseren Bild zu formen scheint. Seit seiner Rückkehr ins Weisse Haus nutzt Donald Trump nämlich ganz gezielt Dekrete, um Bundesbehörden zu entmachten: unter anderem durch Entlassungen, Verlagerungen oder Neuaufteilungen von Zuständigkeiten. Begleitet wird dies von einer konservativen Mehrheit im Supreme Court, die in vielen Fällen der Exekutive freie Hand lässt.

Für Beobachter wie Alex M. Reyes zeichnet sich hier ein gefährlicher Trend ab, denn: "Aus formaler Sicht hat das Gericht im Rahmen seiner Notfallbefugnisse gehandelt. Aber aus institutioneller Perspektive wirkt das wie eine Verweigerung der Kontrollfunktion." Ist die USA somit auf dem Weg in den Autoritarismus? Immerhin zeigt sich bereits in der Bevölkerung ein steigender Vertrauensverlust in die Justiz.

Laut aktuellen Umfragen von Gallup und Pew ist das Ansehen des Supreme Court auf einem historischen Tiefstand. "Transparenz ist essenziell für die Legitimität der Gerichte", erklärt Reyes im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wenn das Gericht weitreichende Entscheidungen trifft, ohne diese zu begründen, entsteht der Eindruck von Willkür – und das ist Gift für jede Demokratie und ein gefährlicher Moment für die US-Justiz."

Was bleibt also vom "Hüter der Verfassung"?

Der Supreme Court steht zweifelsohne an einem Scheideweg. Entweder verteidigt er seine Rolle als unabhängiger Hüter der Verfassung oder er wird zum Erfüllungsgehilfen einer Regierung, die die Gewaltenteilung systematisch auszuhöhlen versucht.

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Alex M. Reyes sagt dazu abschliessend: "Wenn sogar der Supreme Court vor seiner eigenen Entscheidung warnt, ist etwas ernsthaft aus dem Gleichgewicht geraten. Die jüngste Entscheidung ist mehr als ein juristisches Urteil. Sie ist ein Signal. Ob die Justiz ein Bollwerk der Demokratie bleibt oder selbst ein Teil des Problems wird, das hängt von den Entscheidungen ab, die jetzt getroffen werden."

Über den Gesprächspartner

  • Alex M. Reyes ist Verfassungsrechtler und war früher als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Bundesberufungsgericht in Washington, D.C. tätig. Heute arbeitet Reyes als Senior Counsel beim Center for Constitutional Accountability, einer Organisation, die sich für die Wahrung der Verfassungsprinzipien in den USA einsetzt.

Verwendete Quellen