Beim TV-Duell zwischen Christian Kern (SPÖ) und Sebastian Kurz (ÖVP) hat der Körpersprache-Experte Stefan Verra am Mittwochabend für uns genau auf Finger, Arme & Co. geschaut. Überrascht hat ihn diesmal Sebastian Kurz.

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Eine allgemeine Frage vorab: Der Wahlkampf war lange und anstrengend. Wie wirkt sich Erschöpfung eigentlich auf die Körpersprache eines Menschen aus?

Körpersprache-Experte Stefan Verra: Die Gesten und Linien gehen mehr nach unten. Ist man müde oder erschöpft, fällt es uns schwerer, gegen die Erdanziehung anzukämpfen. Darüber hinaus werden im Falle einer Erschöpfung die Reaktionszeiten länger, wobei wir uns hier im Bereich von Hundertstel- oder Zehntelsekunden bewegen.

Zur Debatte am Mittwochabend zwischen Christian Kern und Sebastian Kurz: Sie war hart, aber doch einigermassen gesittet. Hat auch die Körpersprache der Protagonisten Zurückhaltung transportiert?

Ich bin da nicht ganz Ihrer Ansicht. Die Diskussion war vielleicht wenig untergriffig, aber energetisch auf einem hohen Level – und zwar auf beiden Seiten.

Wer mich überrascht hat, war Sebastian Kurz. Der ÖVP-Chef beginnt sich in seiner Gestik buchstäblich ein wenig Richtung Matthias Strolz zu bewegen. Heisst: Er hat gestern etwa viel mit den Armen gerudert, auf Gesichtshöhe mit dem Zeigefinger gestikuliert und sich für seine Verhältnisse sehr schnell bewegt.

Das habe ich bei ihm zuvor eigentlich noch nicht gesehen und war mutmasslich einer gewissen Aufregung geschuldet.

Aufregung im Sinne von Erbostheit oder Nervosität?

Wahrscheinlich sowohl als auch, aber auch im Sinne von "Ich muss die Dinge noch deutlicher machen". Kurz gestikulierte einfach viel auslandender als zuletzt, teilweise sogar über die Hälfte des Tisches hinaus Richtung Kanzler.

Häufig agiert man so, um Menschen aus der Reserve zu locken – aber auch da eher in grossen Räumen oder Hallen vor einer Menschenmenge

Und wie hat sich der Kanzler körpersprachlich geschlagen?

Kern blieb gestern über weite Strecken souveräner und scheint sich nach der Silberstein-Causa wieder gefangen zu haben. Er ist gleichsam wieder dort, wo er hingehört.

Seine Gestik war ruhiger und fand auch mehr in Tischnähe statt, anders als jene seines Gegenübers gestern.

Einziger Kritikpunkt: Sein starrer Blick mit weit geöffneten Augen und sein stetes Lächeln, wenn er Sebastian Kurz zuhörte, wirkten etwas unnatürlich und könnten auch als überheblich interpretiert werden. Wenig Reaktion zeigen heisst nämlich auch: "Du bist nicht wichtig genug für mich."

Diese Form der Mimik scheint aber bei den Politikern modernen Zuschnitts inzwischen generell Usus zu sein, was ich persönlich für bedenklich halte. Letztlich sollten die Protagonisten, besonders potenzielle Kanzler, mehr Dialogbereitschaft und weniger Desinteresse zeigen. So klein dieses Detail scheint: Es ist der Nährboden für die Spaltung eines Landes.

Gab es für Sie körpersprachliche Highlights in diesem Duell?

Ungefähr am Beginn des zweiten Drittels des Duells wurden beim Thema "Bildungssystem" ein wenig die Klingen gekreuzt. In dieser Situation haben mich die beiden eigentlich überrascht, da ich sie ruhiger eingeschätzt hätte.

Mich hat es aber durchaus gefreut, dass sie sich in der Debatte nicht der absoluten Harmonie hingegeben haben, um ja staatstragend zu agieren oder keine Fehler zu machen. Per saldo haben die beiden eine gute Gratwanderung zwischen offensiv und abgeklärt hingelegt und in keiner Sekunde ein gewisses Niveau unterschritten.

Letzte Frage: Welche körpersprachlichen Adaptionen würden Sie den beiden nahelegen, wenn Sie ihr Körpersprache-Coach wären?

Ich würde Ihnen raten, meine Telefonnummer zu löschen (lacht). Im Ernst: Vermutlich sollten Sie gar keine Empfehlungen entgegennehmen, denn, wer stets darauf bedacht ist, alles richtig zu machen, wird die Zuseher nicht berühren.

Jemand, der sich seine Natürlichkeit in der Körpersprache bewahrt hat, wirkt immer attraktiver als jemand, der eine Vielzahl an Inputs von einem Coach bekommen hat.

Mag sein, dass Kern seitens eines Beraters nahegelegt wurde, beim Zuhören keine Reaktion in der Mimik zu zeigen. Ein Körpersprache-Experte kann das aber nicht gewesen sein, denn der hätte ihn damit falsch beraten.

Stefan Verra, 44, stammt aus Lienz, wo er in einer Künstlerfamilie aufwuchs. Seit 1999 beschäftigt er sich mit dem Thema Körpersprache. Er ist Dozent, Coach und Autor ('Hey, dein Körper spricht', 'Hey dein Körper flirtet', 'Die Macht der Körpersprache im Verkauf'). Darüber hinaus hält er weltweit Vorträge zur Körpersprache für Unternehmen und Ärztekongresse und macht im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen das Thema für jedermann zugänglich.
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