In Deutschland entscheidet eine Kommission über die Höhe des Mindestlohns. Schwarz-Rot hält 15 Euro ab nächstem Jahr für machbar – und mischt politisch in der Frage mit. Wie unabhängig ist die Mindestlohnkommission noch?
Eigentlich ist die Sache klar: Wenn die Mindestlohnkommission im Juni über eine neue Lohnuntergrenze entscheidet, soll sie dies unabhängig tun. Aktuell liegt der Mindestlohn in Deutschland bei 12,82 Euro brutto pro Stunde. Wenn es nach der neuen schwarz-roten Koalition geht, soll er aber steigen, deutlich sogar. Im Koalitionsvertrag stellen Union und SPD 15 Euro fürs kommende Jahr in Aussicht – und setzen damit die Mindestlohnkommission unter Druck.
In der beraten Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sowie Wissenschaftler über die regelmässigen Anpassungen. Beim Mindestlohn-Start vor zehn Jahren wurde die Kommission gegründet, damit die Lohnfindung nicht politisch wird. Eine Sorge: Die Parteien könnten sich sonst mit immer höheren Mindestlohn-Forderungen überbieten.
Einen ersten Angriff auf die Unabhängigkeit der Kommission gab es in der Ampel-Zeit. Ex-Kanzler
Doch auch im letzten Wahlkampf warb die SPD mit einem höheren Mindestlohn. Diesmal 15 Euro. Und faktisch setzte sie sich gegen die Union durch. Im Koalitionsvertrag heisst es: "Wir halten die 15 Euro für erreichbar." Damit ist die Zahl gesetzt. Und eine klare Erwartungshaltung formuliert.
Ein ordnungspolitischer Tabubruch?
"Es ist nicht ideal, dass die Politik in die Arbeit der Mindestlohnkommission eingreift", sagt der gewerkschaftsnahe Ökonom Sebastian Dullien. Er findet trotzdem: Die 15 Euro sind vertretbar. Als der Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro festgesetzt wurde, sollte damit die Kaufkraft im unteren Einkommensbereich erhöht werden. Doch dieses Ziel wurde durch die hartnäckige Inflation verfehlt. Dullien: "Eine Anpassung in Richtung 15 Euro würde jetzt in etwa das damals beabsichtigte Kaufkraftniveau wieder herstellen."
Ist der Mindestlohn schon lange zu niedrig?
Der Wissenschaftliche Direktor des Insituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) argumentiert, dass der Mindestlohn schon 2017 zu niedrig angesetzt war. Die Kommission habe sich aufgrund der komplizierten Mehrheitsverhältnisse aber nicht auf kräftige Erhöhungen einigen können. Erst dadurch habe die Politik eingreifen müssen. Dullien findet es richtig, sich bei der Höhe des Mindestlohns an bestimmten Kriterien zu orientieren – etwa 60 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten, wie es eine europäische Richtlinie vorsieht. Der Medianlohn teilt die Bevölkerung in zwei gleich grosse Gruppen, eine, die mehr verdient und eine, die darunter liegt. Er ist damit weniger anfällig für statistische Ausreisser.
Aus Sicht der Arbeitgeber spielt diese Sicht in der Mindestlohnkommission bereits eine Rolle. Bleibt man beim 60-Prozent-Kriterium, müsste der Mindestlohn aktuell bei 14,09 Euro liegen. Eine Erhöhung auf 15 Euro wäre immer noch ein Plus von fast 6,5 Prozent. Von aktuell 12,82 Euro ist der Sprung noch grösser.
Ist das machbar in einer Zeit, in der die deutsche Volkswirtschaft im dritten Jahr stagniert, in der Verteilungskonflikte zunehmen und der Arbeitsmarkt beginnt sich einzutrüben?
Ein Anruf bei Hagen Lesch. Auch er ist Ökonom. Beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln beschäftigt er sich mit Tarifpolitik. Lesch ist kein Gegner des Mindestlohns, aber er sieht die politische Debatte darum kritisch. Der Forscher findet: "Die Mindestlohnkommission sollte ihre Unabhängigkeit nutzen und unbeeindruckt von politischer Einflussname eine Entscheidung treffen." Je nach Berechnungsmethode könne der Mindestlohn dann zwischen knapp 14 Euro im unteren Korridor und knapp 15 Euro im Oberen liegen. "Das ist der Spielraum. Jetzt muss die Kommission entscheiden", sagt Lesch.
IW-Forscher: "Es gibt Kipppunkte"
Bislang ist sich die Wirtschaftswissenschaft einig: Der Mindestlohn war kein Job-Killer. Dieses Argument wurde lange von konservativer und liberaler Seite vorgebracht. Allerdings war das gesamtwirtschaftliche Umfeld auch viele Jahre gut. Die deutsche Wirtschaft boomte, der Arbeitsmarkt war robust. Das ist inzwischen anders. Damit könnten auch die Risiken beim Mindestlohn zunehmen.
"Wichtig ist, dass es eine Gesamtabwägung gibt", sagt IW-Forscher Lesch. "Die These, dass der Mindestlohn niemals Arbeitsplätze kosten wird, stösst irgendwann an eine Grenze." Es gebe Kipppunkte. "Die haben wir noch nicht erreicht. Aber die Gefahr ist da", sagt er.
Sein IMK-Kollege Sebastian Dullien hält diese Warnung für übertrieben. Weder bei Inflation noch bei Beschäftigung sei mit grösseren Auswirkungen zu rechnen. Die Sorgen davor seien übertrieben.
All diese Überlegungen werden auch in den Bewertungen der Mindestlohnkommission eine Rolle spielen. Sie steht in diesem Jahr vor einem besonderen Dilemma: Folgt sie der Politik und einigt sich auf 15 Euro, kann es so wirken, als sei sie eingeknickt. Enttäuscht sie aber die Erwartung von Schwarz-Rot, könnte das vor allem die Sozialdemokraten reizen – wodurch die Diskussion um den Mindestlohn noch politischer werden würde.
IW-Forscher Lesch rät der Mindestlohnkommission, einen einstimmigen Beschluss zu fällen. Sie könnte 15 Euro anpeilen – allerdings in Schritten, nicht sofort. "Die Bundesregierung und vor allem die SPD könnte sich dem kaum verweigern", sagt Lesch.